Gebrauchte Geschichte

Der Holocaust ist nicht mehr nur Teil der nationalen Erinnerungskultur. Die Erinnerung an ihn wird globalisiert und droht ortlos zu werden – so die prägnante These von Natan Sznaider und Daniel Levy

von MARIE LUISE KNOTT

Als der ehemalige Nazi und spätere CDU-Spitzenpolitiker Kurt Georg Kiesinger 1976 die Ehrendoktorwürde der Uni Konstanz erhielt, protestierten die Studenten mit einem gelben Stern auf der Brust, auf dem ein schwarzes „R“ stand. „Die Juden von gestern sind heut die Radikalen“, sangen sie und ignorierten bewusst, dass die Juden 1933 im Unterschied zu ihnen nicht wegen politischer Meinungen oder konkreter Taten verfolgt worden waren. Die Kritik eines jüdischen Wirtschaftsprofessors an dieser Aneignung der Geschichte wurde von den Studenten damals nur als reaktionäre Feindseligkeit wahrgenommen, weil er bei der FDP war.

Die Anekdote illustriert, dass die Erinnerung an den Holocaust in der Nachkriegsgeschichte selten einem Selbstzweck folgte. Zumeist ist die Art und Weise der Erinnerung nützlich gewesen, so die Soziologen Daniel Leyy und Natan Sznaider in ihrer kürzlich erschienenen Studie „Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust“. Sie untersuchen, wie in den letzten 55 Jahren der Mord an den Juden rezipiert wurde. Was wurde erinnert, welche Nationalerzählung wurde kultiviert oder verstärkt? Und: Kann man seit dem Ende des Kalten Kriegs Veränderungen konstatieren?

Der Holocaust, so die zentrale These, sei heute, im Zeitalter der „Zweiten Moderne“, von einer ausgeprägt nationalen Erinnerung zur ersten globalen Erinnerung mutiert. Und dieser Prozess sei Teil der im Zuge der Globalisierung stattfindenden Entortung und Universalisierung der Denk- und Lebenswelten. Untersucht werden die drei Nationalkulturen, die am stärksten vom Holocaust geprägt sein dürften: Israel, Deutschland und Amerika. Im Deutschland der Nachkriegszeit dominierte die These, die Deutschen seien von den Nazis verführt worden bzw. die Nazis hätten einen europäischen Bürgerkrieg angezettelt. So gelang es den Deutschen, sich in die Riege der Opfer einzugliedern und eine innere Demokratisierung zu vollziehen. Später dann sei durch die Anerkennung der Schuld (Brandts Kniefall) die vollständige Integration Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft ermöglicht geworden. Anders in Israel. Hier dominierte in der Holocaust-Erinnerung lange Zeit die Kritik an der Passivität der Diaspora. Der Aufbau eines starken jüdischen Staates sei somit in der Nationalnarration als Konsequenz aus der Geschichte erschienen.

Anders als dieser je partikulare Gebrauch der Erinnerung habe man im fernen Amerika unmittelbar nach dem Krieg eine universalistische Lehre aus dem Holocaust gezogen: Jenseits des Atlantiks, so die Autoren, habe im Mittelpunkt gestanden, dass Amerika „tatenlos zugesehen“ habe. Diese Kritik passte gut zum neuen weltpolitischen Engagement der Vereinigten Staaten: Unter Berufung auf den Holocaust (den man nicht verhindert hatte) sei man überall auf der Welt legitimiert gewesen, Freiheit und Menschenrechte notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Als die Kritik am Vietnamkrieg Ende der Sechzigerjahre den Holocaust für ihre Argumente zu gebrauchen versuchte („Völkermord in Vietnam“) waren es die amerikanischen Juden, die, so Levy und Sznaider, durch ihre Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust der Anklage (USA-SA-SS) den Wind aus den Segeln nahmen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges sei auch in anderen Ländern und gerade in Deutschland die universalistische Lehre aus dem Holocaust (Kampf gegen „ethnische Säuberungen“ und Völkermord, Einsatz für Menschenrechte) in den Vordergrund getreten. „Deutschland befreit Auschwitz in Kosovo“ lautet eine ironische Überschrift der beiden Autoren im letzten Teil des Buches, das dem Gebrauch der Holocaust-Erinnerung im Jugoslawienkrieg gewidmet ist. Während in Amerika das „Nie wieder tatenlos zusehen“ den Militäreinsatz legitimiert habe, sei es in Europa (und teilweise in Israel) die Wiederkehr der Bilder von Flüchtlingen und „ethnischen Säuberungen“ gewesen.

Levy und Sznaider erkennen darin eine Universalisierung des Gedächtnisses, eine Entkoppelung von kollektiven nationalen Zugehörigkeiten. Dabei betonen sie, es handele sich keinesfalls um eine einheitliche Entwicklung hin zu einem globalen Gedächtnis, vielmehr sei dies eine parallele Entwicklung, deren Gefahr sie nicht unbeachtet lassen: Der Holocaust-Vergleich läuft Gefahr, die Schwachen zu Unschuldigen zu machen, sie zu untätigen Objekten zu verdammen, wie es Giorgio Agamben kürzlich in „Homo sacer“ beschrieb. Unschuldig wie die Juden eben – und wie sich die Studenten 1976 gefühlt haben dürften. Im Balkankonflikt bedeute die Bezeichnung „unschuldig“, dass die unterdrückten Volksgruppen keine eigenen Interessen hätten und nichts anderes seien als willfährige Objekte westlicher Hilfsmaßnahmen. Eindringlich warnen die Autoren vor einer derartigen Entpolitisierung.

Die Autoren, beide selbst als Kinder jüdischer Überlebender in deutschen Displaced Persons Camps geboren, haben Ihre Studie auf Deutsch verfasst und veröffentlicht, obwohl Natan Sznaider längst in Israel, Daniel Levy längst in Amerika lebt. Die Mischung aus intimer Kenntnis und Außenwahrnehmung ist äußerst anregend. Das Buch entstand vor dem 11. September 2001. Seither spielt der Holocaust als Bezugspunkt internationaler Politik eine deutlich geringere Rolle. Die Machtfrage hat über die Moral die Oberhand gewonnen. Die universell präsenten Bilder vom einstürzenden WTC haben zwar die ganze Welt verändert, doch der Schock, den sie hinterließen, wird in den verschiedenen Ländern äußerst verschieden gedeutet. Dass in vierzig Jahren Afghanistan, Amerika und Saudi-Arabien gemeinsam unter Berufung auf die Anschläge vom 11. September weltpolitisch tätig werden, ist kaum vorstellbar. So bleibt am Ende offen, ob der Holocaust die erste oder die einzige Erinnerung ist, von der eine Weile nationenübergreifend Gebrauch gemacht wurde.

Natan Sznaider/Daniel Levy: „Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust“, 256 Seiten, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, 18,80 €