auf augenhöhe
: HEIDE PLATEN über die neue Höflichkeit

Viel Schnauze, viel Herz

Hass ist eine wunderbare Triebkraft, Hass auf die Hauptstadt fördert die Verdauung, schärft den Verstand und befördert die gute Laune auf der Rückreise. Berlin ist hassenswert groß und grau und hässlich, die Menschen sind grässlich, preußisch, unfreundlich, ruppig. Nur Schnauze, kein Herz. Das haben wir schon bei Theodor Fontane gelernt. Der typische Berliner rempelt fremde Leute an, nur um sagen, nein, brüllen zu können: „Pass doch besser uff, Mann!“ Und wir Kurzzeitgäste wollen ja auch gar nicht umlernen.

Und dann dies. Die Wiege der Urberliner Garstigkeit, der öffentliche Personennahverkehr, gröhlt auf einmal nicht mehr. Das giftige „Einsteiiinn! Zrrrickbleim!“ samt nach vergeblicher Freundlichkeitsschulung renitent herausgekotztem „Bitttte!“ ist verschwunden. Friedliche Stille auf den Bahnsteigen, Herren mit schneeweißen Hemden weisen den Weg, lächeln, erklären die – „Haben Sie bitte Verständnis“ – Verspätungen wegen Bauarbeiten. Der Busfahrer lässt die Tür nicht etwa genau vor der Nase der Fahrgäste zuknallen – „Det war Neese, Männeken!“ –, sondern öffnet auch für Verspätete noch einmal. Er wechselt ohne Meckern große Scheine. Kein: „Ham Se ’t nich jefällichst kleener?“

Der Kassierer im Schloss Charlottenburg spricht Englisch mit einer japanischen Familie, erklärt gründlich, bittet die Wartenden in der Schlange lächelnd um Geduld, der Garderobier erklärt, ebenfalls lächelnd, den Weg zum Schinkel-Bau. Kein: „Könn Se keen Deutsch? Könn Se nich kieken?“ Im Supermarkt, endlich, krakeelt eine weggedrehte Rentnerin in gewohnter Manier. An der Kasse aber ist schon wieder Waterloo an der Hass-Front. Die Schlange macht bereitwillig Platz, lässt den Schreihals vor, kommentiert höflich leise, der junge Mann an der Kasse lächelt, lächelt wirklich und hilft der letzten echten Berlinerin im Stadtteil beim Einpacken.

Wo sind sie, die herrlichen Zeiten, in denen eine besorgte Berliner Großmutter ihren Enkel fürs preußische Leben ertüchtigte und lernen ließ, wie er eine Schrippe zu essen habe: „Schling nich so, Kleener, sonst musste wieda kotzen und denn kriste wieda eene jeklebt!“ Oder jene Szene, die einem sagte, jetzt, jetzt endlich sei man aus der Provinz im wahren Berlin angekommen: U-Bahn-Unterführung Wannsee, der Mann mit Koffer überholt eine Passantin, rammt ihr das schwere Teil in die Kniekehlen, Frau stolpert, fällt fast, Mann hastet vorbei, kein Pardon, Blick zurück über die Schulter: „Selba schuld, Kleene, wat rennste denn och so!“ Das ließ sich so gut erzählen daheim in Hessen und Baden-Württemberg. So sind sie, die Preußen, einfach schrecklich.

In Berlin, scheint es, räsonnieren neuerdings nur noch die einstmals Zugereisten, die noch immer an Überidentifikation mit dem preußischen Volkscharakter leiden. Der Schriftsteller Hans Christoph Buch zum Beispiel, der der Hauptstadt nun schon fast 40 Jahre innewohnt und noch 1999 in einem Essay aus seinem masochistischen Beharrungsvermögen 1999 den Honig des Eigenlobs saugte, „weil südlich der Mainlinie öfter die Sonne scheint“. Und gleichermaßen die dörfliche Piefigkeit, den trüben Winter und den Sommersmog an der Spree beklagte. Der Mann kennt Frankfurt am Main im Sommer nicht, wenn der Dunst dort in der Flussebene zwischen den Mittelgebirgen wie eine Glocke festhängt, in Berlin aber schon die Seitenstraßen der Innenstadt Sommerfrischen sind, dank – zugegebenermaßen einst preußisch militaristisch angelegter – breiter Alleen, die dem Wind und der Berliner Luft Raum geben.

Proportional zur neuen Freundlichkeit haben sich die Speisenkarten verändert. Kein Sondermüll, genannt Leber Berliner Art, kein wabbeliges Eisbein, kaum klebrige Weiße mit Schuss, keine Nörgelei. Der genuine Meckerer kommt fürderhin aus Hessen, auf den letzten Drücker, Spätaufsteher und braucht Brot. Sesambrot mag er nicht, Sonnenblumen auch nicht, nein, keinen Kümmel, keine Körner. Die Verkäuferin lächelt und fragt sanft wie ein Engel: „Wat mögen Se denn jerne?“ Kapitulation, Abrüstung, Entwaffnung: „Zwei Mohnbrötchen, bitte.“ Abgang, leise zur Seite: „Eigentlich mag ich auch keine Mohnbrötchen.“ Da keimt erste Liebe auf zu Berlin, mitten im Herzen der Hauptstadt, auf dem Karl-August-Platz zwischen all den Blumenständen. Und ein wenig Trauer auch.

Die Aufgabe des Vorurteils tilgt das Lokalkolorit. Der einzige echte Berliner wird kein ungehobelter Kotzbrocken mit Fleischerhundmentalität und biestigem Charakter sein, sondern nur noch ein süßfettiges Gebäck mit Marmeladenfüllung.