Gestern im Gericht
: Mildes Urteil soll Fehde verhindern

Salomon setzt Prioriäten

„Es ist die hohe Aufgabe der Justiz, die Wahrheit zu ermitteln. Doch gelegentlich sollte der Sicherung des Rechtsfriedens Vorrang eingeräumt werden.“

Mit diesen Worten eröffnete Richter Helmut Kellermann gestern den Prozess gegen den 24-jährigen türkischen Kurden Erdal Y., der im Februar 2002 vor der Gröpelinger Fatih-Moschee die 51-jährige Emine T. angeschossen und dabei schwer verletzt hatte. Die Staatsanwaltschaft warf Y. versuchten Totschlag, gefährliche Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitz vor. Richter Kellermann stellte jedoch bereits eingangs klar, dass der Verstoß gegen das Waffengesetz wegen der erheblich schwerer wiegenden Körperverletzung nicht berücksichtigt würde.

Während einer Beerdigung in der Moschee hatte Y. mit einer halbautomatischen Feuerwaffe auf T., die von Familienmitgliedern umgeben war, gezielt und sie an der Hüfte getroffen. Am Mittwoch trat T. als Nebenklägerin und Zeugin vor dem Landgericht auf – immer noch mit Gehhilfen.

400 Zeugen waren damals vor der Moschee versammelt – kein Einziger will etwas gesehen haben. Das veranlasste den Richter zu der Annahme, den tatsächlichen Hintergrund der Tat könne das Gericht ohnehin nicht ermitteln. Daher solle es sich darauf beschränken, eine drohende „Blutfehde“ zu verhindern. Die möglichen Protagonisten einer solchen Familienfeindschaft wissen über diese Absicht nun aus erster Hand: Mitglieder beider Familien saßen auf den Zuhörerbänken.

Um nicht unnötig Salz in die Wunde zu streuen, verzichtete der Vorsitzende darauf, den Angeklagten den Tatverlauf schildern zu lassen. Lediglich die geschädigte Nebenklägerin T. redete: Y. sei auf ihre Familie zugekommen, habe mit der Automatik-Waffe gezielt und sie in die Hüfte getroffen – eine lebensgefährliche Verletzung. Angehörige überwältigten den Schützen, wobei er selbst zwei Messerstiche erlitt. Die Tatwaffe ist spurlos verschwunden.

Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft warf die Nebenklägerin dem Schützen gar nicht vor, er habe sie töten wollen. In seinem Plädoyer räumte jedoch auch der Staatsanwalt ein, eine Tötungsabsicht sei nicht nachzuweisen und sprach sich für eine zweijährige Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung aus, die zur Bewährung ausgesetzt werden solle.

Salomonisch fiel das Urteil des Schöffengerichts aus: „Wir konnten zwar den Grund für die Schüsse nicht ermitteln, sicher ist jedoch, dass beide Familien nicht alles richtig gemacht haben“, sprach versöhnlich der Richter. „Schwarz oder weiß gibt es hier nicht.“ Und so wurde der Forderung der Staatsanwaltschaft entsprochen – mit zwei Auflagen: Die Familien sollen einen „Friedensrichter“ um Schlichtung anrufen, wie es im islamischen Kulturkreis üblich ist. Und Y. darf sich den Angehörigen der Familie T. nicht nähern. Damit schienen alle einverstanden. Sebastian Kretz