„Es ist furchtbarste Gewalt“

Kinderprostitution ist eine verbrecherische Schattenwirtschaft des globalisierten Marktes. Der internationale Tourismus gibt dem Geschäft entscheidende Impulse. Gespräch über Täterprofile, neue Märkte und die Notwendigkeit internationaler Gesetze

Opfer gewalttätiger Praktiken, die Erwachsene niemals dulden würdenTätertyp: der erlebnisorientierte Heterosexuelle, der den Kick suchtLangzeitstudien zeigen: Nur wenige Kinder überleben das brutale Geschäft

Interview CHRISTEL BURGHOFF
und EDITH KRESTA

taz: Weltweit werden Kinder sexuell ausgebeutet. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass 2 Millionen Kinder wie Vieh gehandelt und als Sexsklaven benutzt werden. Wie dringlich ist der Einsatz gegen Kinderprostitution geworden?

Mechthild Maurer: Der war schon immer wichtig. Doch heute wird eher erkannt, dass wir es mit vielfältigen Formen sexueller Ausbeutung zu tun haben.

Wie haben sich die Formen sexuellen Missbrauchs verändert?

Ermittler und Betreuer von Opfern berichten, dass es heute weitaus brutaler zugeht als früher. Die Kinder haben viel mehr Verletzungen und Gewalterlebnisse. Es wird mehr ausprobiert.

Ein neues Sklaventum?

Untersuchungen zeigen, dass die Sexualpraktiken von Erwachsenen an Kindern immer häufiger Analpraktiken sind, dass Gerätschaften verwendet werden. Die Freier selbst sprechen von Praktiken, die erwachsene Partner nicht dulden würden.

Wer sind die Täter?

Man spricht heute von unterschiedlichen Täterprofilen. Es gibt den Pädophilen, der sich nicht zum Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen angeregt fühlt. Wir haben den retardierten Typ, der insgesamt große Probleme mit der Sexualität hat und sich gegenüber Kindern durchsetzt, und wir haben den erlebnisorientierten Heterosexuellen, der den letzten Kick sucht. Den sucht er virtuell auch zu Hause, nicht nur im Urlaub. Das ist ein Tätertyp, bei dem man wenig Chancen mit Therapie oder Prävention hat. Bei letzerem Typ verzeichnen Ermittler die stärkste Zunahme.

Begünstigt der internationale Tourismus einen bestimmten Tätertyp?

Tourismus ist nicht ursächlich verantwortlich für die Kinderprostitution. Aber er nützt den Tätern, indem sie leichter an ihr Ziel kommen. Der pädophile Tätertyp weiß sehr wohl, dass er sich auf einem kriminellen Feld bewegt, und er sucht Gebiete, in denen er sich sicher fühlt und eine hohe Erfolgsquote bei der Nachfrage hat. Deshalb auch die gute Organisation von Pädophilen oder Pädosexuellen im Urlaub, sie bevorzugen ressortähnliche Urlaubsformen. Für den heterosexuellen Erlebnistyp transportiert der Tourismus ohnehin das, was er sucht, nämliche neue Kicks.

Schafft Tourismus international einen neuen Markt für Kinderprostitution?

Märkte werden geschaffen durch den strukturellen Wandel von Gesellschaften, durch wirtschaftliche Entwicklung und ihr Gegenteil, den wirtschaftlichen Zusammenbruch, oder auch durch Öffnung eines Landes. Wenn parallel zu diesen Entwicklungen kein ausreichender Kinder- oder Minderjährigenschutz existiert, dann laufen natürlich solche Gebiete Gefahr, zu neuen Märkten zu werden.

Kann man bei der Kinderprostitution von länder- und kulturspezifischen Unterschieden sprechen?

In Gesellschaften, in denen Frauen und Mädchen einen geringen Wert haben, kommt sexueller Missbrauch zweifellos häufiger vor als in Gesellschaften, in denen sie einen höheren Status haben. In einer buddhistischen Gesellschaft wie Thailand hat die Prostitution eine historische Tradition. Das wird zwar von der thailändischen Gesellschaft bestritten, doch hier gehörte es beispielsweise zum Erwachsenwerden, dass Studenten in ein Bordell eingeführt wurden. Das erleichtert natürlich die Ausbreitung der Prostitution.

Ist Kinderprostitution ein Problem der Dritten Welt?

Nicht nur. Das Problem stellt sich auch durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Ostblocks. In all diesen Ländern gibt es keinen ausreichenden Jugendschutz.

Wie hat sich beispielsweise die Situation in Kenia entwickelt? Dieses Land galt lange Zeit als Ziel des Prostitutionstourismus.

In Kenia bestand bereits vor dem Tourismus ein großer Binnenmarkt für Prostitution. Das Land war für den Prostitutionstourismus geeignet, es war günstig, die Nachfrage nach Sexualpartnern konnte befriedigt werden. Doch mit dem HI-Virus kam plötzlich die Angst auf. Gleichzeitig brach das politische System zusammen, und so blieb die Klientel wie der gesamte Tourismus aus.

Und die Prostitution ging zurück?

Die Prostitution durch Touristen, insgesamt aber nicht. Wir haben in Kenia eine große HIV-Problematik. Und wir haben dort das Problem allein stehender Kinder, deren Eltern an Aids gestorben sind. Diese Kinder müssen sich durchbringen und sind selbst HIV-positiv. Sie sind quasi der Nachschub für diesen Markt. Diese Kinder sehen gar keinen anderen Ausweg. Sie bedienen zum großen Teil eine inländische Klientel, eine mobile Gesellschaftsgruppe wie etwa die Lastwagenfahrer und kleinen Geschäftsleute. Die Kinderprostitution findet vor allem entlang der Grenzen statt.

Wie ist die Situation in Südafrika?

Während der Apartheid wurde dort gar nichts bekannt. Jetzt weiß man, dass sehr viele, vor allem schwarze Mädchen und Jungen, sexuell missbraucht wurden.

Von Weißen?

Ja, von Weißen, aber nicht nur. Das war gang und gäbe. Im Zuge der neuen Entwicklung erleben wir den Zuzug in die städtischen Ballungszentren, die Kinder stehen nun dort dem Markt zu Verfügung. Die offene Prostitution hat in diesem Zusammenhang zugenommen. Die Nachfrage des inländischen Markts ist riesengroß. Zwei Drittel der Prostituierten, die in Kapstadt erfasst wurden, sind minderjährig.

Welche Altersgrenze gilt für Minderjährige?

Nach unserem Maßstab ist ein Minderjähriger unter 18 Jahre alt. Der größte Teil der Kinder dort ist jedoch unter 14 Jahre. Ich selbst war in Kapstadt mit Streetworkern unterwegs, wir trafen auf Kinder von 8 bis 12 Jahren.

Jungen und Mädchen?

Überwiegend Mädchen.

Neuerdings wird Kapstadt als Schwulendestination promotet …

Das lokale Touristenbüro vermarktet Kapstadt seit einem Jahr als Gay Destination auf dem internationalen Tourismusmarkt, und das sehr erfolgreich. Eine Vertreterin des Gesundheitsministeriums hat deshalb die Tourismusindustrie scharf angegriffen. Ihr Vorwurf: Mit dieser Vermarktungsschiene werde der Kinderprostituion Vorschub geleistet. Zumal Prostitution in Südafrika verboten ist. Und wenn nun die Behörden selbst mit Schwulenzielen und Clubs werben, die auch sexuelle Dienste anbieten, dann fordern sie zum Übertreten ihrer eigenen Gesetze auf.

Und das setzt die Hemmschwelle herab?

In Broschüren wird mit den neuen Clubs geworben, und in deren Nähe sieht man die kleinen Jungen stehen. Bei diesem Thema kommen wir als Organisation in ein gefährliches Fahrwasser, weil wir leicht als homosexuellenfeindlich dargestellt werden.

Welche Folgen hat der sexuelle Missbrauch für die Opfer?

Wir sind überwiegend auf die Aussagen von Beratungsstellen und Streetworkern angewiesen. In asiatischen Ländern wurden auch Langzeitstudien gemacht, und die machen klar: Es gibt wenige Überlebende. Viele diese Kinder sind schwer krank und verletzt an Seele und Körper. Sie sind HIV-infiziert, sie fangen an zu schnüffeln und nehmen Drogen, sie sind depressiv, sodass sie einfach sehr jung sterben. Sie verschwinden irgendwie von der Bildfläche.

Gibt es kein Entkommen?

Einige wenige, die sich stärker behaupten können, werden später selbst zu Zuhältern. Es gibt nur ganz wenige, die die Chance haben, über therapeutische Maßnahmen und mit Ichstärke die Situation zu überwinden. Die arbeiten dann meist selbst in der Prävention und Therapie mit Betroffenen.

In welcher Form?

Es gibt in Asien inzwischen neue Ansätze der Gruppentherapie mit religiösem Hintergrund. Recovery heißt das dort.

Wer organisiert diese Angebote?

In Thailand hat die Regierung die Prävention übernommen. In den Schulen wird aufgeklärt über die Problematik der Prostitution. Dieses staatliche Bildungsprogramm läuft nun schon einige Jahre. Es wird auch mit Erwachsenen in den Dörfern gearbeitet. Das scheint erfolgreich zu sein, denn Eltern geben ihre Kinder nicht mehr so leichtfertig weg. Aber so verschiebt sich auch die Problematik: Professionelle Anwerber holen nun Kinder aus Flüchtlingscamps jenseits der thailändischen Grenzen.

War die Praxis, Kinder wegzugeben, ein Ergebnis gesellschaftlicher Modernisierung?

Die starke Kommerzialisierung der Prostitution, das ist die Moderne. Wenn man früher seine Kinder herumreichte, um etwa Spielschulden zu begleichen, dann war das eher normal.

Warum sind manche Entwicklungsländer anfälliger für Kinderprostitution als andere? In islamischen Ländern scheint es weniger Kinderprostitution zu geben.

In islamischen Ländern wird eher der Handel mit ausländischen Prostituierten betrieben. Was den sexuellen Missbrauch angeht, herrscht in islamischen Ländern ein Schweigetabu. In muslimischen Ländern stellt sich uns außerdem das Problem der Altersgrenze: Sie haben sich gegen die UNO-Resolution gewehrt, in der Kinder bis zu 18 Jahren als minderjährig gelten. Wenn Mädchen mit 13 verheiratet werden, dann spricht eben einfach niemand von Kindesmissbrauch.

Hat Aids einen Trend zur Jungfrau ausgelöst?

In Thailand tauchten die ersten Aidsfälle unter Prostituierten in Touristengebieten auf. Die Touristen suchten dann gezielt nach solchen Prostituierten, die nicht „verbraucht“ waren. Aber zuvor hatte man Thailand schon gegen das aidsverseuchte Kenia ausgetauscht.

Und wo gibt es heute Neuland für Kinderprostitution?

Vietnam, Kambodscha, Laos, Birma … In Thailand dämmen wir das Problem ein, die organisierte Kriminalität weicht aus. In Kambodscha wiederum treffen wir weniger auf kambodschanische Kinder, sondern eher auf vietnamesische, weil es aufgrund der Wirtschaftsstrukturen viel einfacher ist, den Handel in Vietnam zu organisieren. Außerdem haben wir es heute weltweit mit der Russenmafia zu tun, wir finden in Thailand russische und polnische Prostituierte.

Kinder?

Zumindest Minderjährige. Gerade bei der Kinderprostitution sind wir mit der Globalisierung der Kriminalität konfrontiert.

Welchen Einblick hat Ecpat in diese kriminellen Netzwerke?

Über die Opfer, die aussagen.

Seit einigen Jahren ist doch auch die Strafverfolgung möglich …

Das ist ganz wichtig. Doch die Erwartungen an die Strafverfolgung sind viel zu hoch. Bei allen exterritorialen Verbrechen sind den Strafverfolgern die Hände gebunden. Es gibt weltweit kein Gesetz, das es der deutschen Polizei erlaubt, etwa in Thailand oder der Dominikanischen Republik zu ermitteln. Das verhindert die Souveränität der Staaten.

Welche Formen der Strafverfolgung halten Sie für nötig?

Für die global organisierte Kriminalität brauchen wir eine global organisierte Polizei.

Und eine global organisierte Fahndung?

Das wäre dann der nächste Schritt.

Gab es denn schon Erfolge bei der Strafverfolgung?

Es gab schon Verurteilungen von deutschen Tätern in Thailand. Aber nicht unbedingt mit Urteilen, wie wir sie uns vorstellen.

Bei Drogendelikten ist man da schneller bei der Hand.

Ja. Das ist mir völlig unverständlich. Auch Reiseveranstalter haben bei Drogen ein ganz anderes Bewusstsein und damit ein ganz anderes Ermittlungsinteresse.

Also arbeitet Ecpat vor allem auf der moralischen Ebene?

Wir versuchen immer wieder, die rechtlichen Defizite aufzuzeigen und in Zusammenarbeit mit der Reisebranche zu Meldungen zu motivieren, damit es auch innerhalb der Strafverfolgungsbehörden und der Gesetzgebung zum Umdenken kommt. Wenn keine Meldungen gemacht werden, kann nicht ermittelt werden. Es muss klar werden, dass sexueller Missbrauch von Kindern im Ausland kein Vergehen, sondern ein Verbrechen ist. Zum größten Teil wird das ja sozial akzeptiert: Männer brüsten sich sogar in Sportvereinen und bei der freiwilligen Feuerwehr mit ihren Eroberungen.

Wie ist der Kinderhandel nach Europa organisiert?

Der größte Teil der Zufuhr an Kindern nach Deutschland kommt über Polen und die Tschechei; nach Italien läuft der Strom über Albanien und Restjugoslawien, ein anderer Teil läuft in die osteuropäischen Staaten, noch ein anderer geht aus dem Kosovo in Richtung Griechenland und Türkei. Und je nach Ausländergesetzgebung laufen die Ströme unterschiedlich. Nach Deutschland beispielsweise, wo Ausländergesetz vor Jugendschutz geht, können Schlepper nicht offen einschleusen, in Italien hingegen können Minderjährige nicht so einfach ausgewiesen werden. Hierzulande wird dann vor allem im Internet „Frischfleisch aus Polen, noch nicht angestochen“ inseriert. Die Kinder halten sich nur kurz im Land auf und werden dann weitergebracht: von Deutschland in die Niederlande und von dort nach Großbritannien – das ist eine beliebte Tour. Die Schlepperbanden analysieren genau die Bedingungen in einem Land.

Wie viele Jahre dauert so eine Tour für einen Jugendlichen?

So zwei, drei Jahre. Aber für die meisten gibt es dann keinen Ort, an dem sie bleiben könnten, denn an den kriminellen Strukturen ist meist ein Mitglied der Familie im Heimatland beteiligt. Die Kinder haben Angst, dass sie zurückgebracht werden, weil dann der große Bruder oder der Cousin sie sofort einfängt und wieder auf die Straße bringt.

Unterscheidet sich der osteuropäische Markt etwa vom thailändischen?

Er ist gnadenlos hart. Dagegen läuft es in Asien noch geradezu freundlich ab. Aber hier zählt kein Leiden, kein Schmerz.

Ist die Kinderprostitution derart lukrativ?

Interpol sagt, dass in der Kinderprostitution und -pornografie mehr Geld gemacht wird als im Drogen- oder im Waffenhandel. Man braucht dafür kein Anfangskapital, man erwirtschaftet es sich dort beispielsweise für den Waffenhandel. Und im Tourismus werden viele dieser Gelder gewaschen.

Dennoch begrüßt Ecpat Erfolge in der Zusammenarbeit mit der Tourismusindustrie?

Wenn wir den Verhaltenskodex mit der Tourismusindustrie zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung ansprechen, dann muss ich sagen: Wir brauchen die Verantwortungsbereitschaft der Reisebranche bei der Prävention.

Wäre es sinnvoll, Sextourismus organisiert anzubieten, um so Auswüchsen entgegenzutreten?

Vor allem der heterosexuelle, erlebnisorientierte Täter findet den Kick nicht in der Normalität, der sucht ihn immer schräg dazu. Und überhaupt, es geht bei der Kinderprostitution doch weitgehend gar nicht um Sex, es geht um Gewaltfantasien, um Gewalt und Macht. Das ist ein ganz entscheidender Bereich. Dass eine Scheide von vorn bis hinten aufgerissen, dass ein Anus völlig vernarbt ist und sich nicht mehr schließen kann, weil scharfkantige Gegenstände x-mal reingedrückt wurden, das hat doch nichts mehr mit Sexualität zu tun, das hat mit Gewalt zu tun und dem Spaß daran, Schmerzen zuzufügen. Es ist für unsere Arbeit wichtig, Kinder immer wieder selbst erzählen zu lassen, auch wenn es einem selbst wehtut. Es ist furchtbarste Gewalt.