Allmacht des Einwanderungslandes

Der Anthropologe Emmanuel Todd über die Unterschiede der Einwanderungsgesellschaften Frankreich und Deutschland und die Fixierung der Deutschen auf den Islam. Ein Gespräch über ethnischen Eigensinn und vorsichtigen Optimismus

Der deutschen Gesellschaft liegt an der Schaffung einer stabilen Randgruppe

Interview VERONIKA KABIS

taz: Als Sozialanthropologe analysieren Sie Familienstrukturen, Status der Frau, Heiratsverhalten. Gibt es dabei Überraschungen im aktuellen Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich?

Emmanuel Todd: In der Tat. Für den Anthropologen ist zum Beispiel die Rate der interkulturellen Eheschließungen, der so genannten Exogamie, ein wichtiger Indikator für Toleranz. In Frankreich haben wir es hier mit einem interessanten Phänomen zu tun: Dort verdeckt die Stärke der extremen Rechten, dass die Exogamierate rasch sehr stark angestiegen ist. Doch genau daran – noch genauer an der Anzahl der Verbindungen zwischen eingewanderten Frauen und einheimischen Männern – lässt sich letztlich der Grad der Assimilation oder Segregation ablesen, und dieser anthropologische Indikator kann durchaus eine andere Wahrheit zum Ausdruck bringen als die Indikatoren politischer oder weltanschaulicher Natur. Die westlichen Gesellschaften, die am eindeutigsten ihre weltanschauliche Toleranz beteuern, sind nicht notwendigerweise auch diejenigen, die anthropologische Unterschiede am ehesten gelten lassen, wie man am Beispiel der USA oder Deutschlands sehen kann, wo äußerliche Merkmale wie Hautfarbe eine viel größere Rolle spielen.

Wenn man die größten Einwanderergruppen in Deutschland und Frankreich vergleicht und ihr Heiratsverhalten, welche Schlüsse lassen sich daraus für die Integrationsbedingungen in einem Land ziehen?

Als ich 1994 „Das Schicksal der Immigranten“ schrieb, ließ im Falle der Türken in Deutschland die Zahl der Eheschließungen mit Deutschen und insbesondere der Anteil der „gemischten“ Geburten nicht darauf schließen, dass sich diese Bevölkerungsgruppe in einem Stadium der Assimilation befände. Auffallend wenige türkische Frauen heirateten deutsche Männer. Inzwischen ist die Zahl gestiegen. Dennoch bleibt dies eine Besonderheit der deutschen Einwanderungsgesellschaft.

Hängt diese Asymmetrie nicht mit der Religion der Türken, dem Islam, zusammen?

Der Islam akzeptiert in der Tat die Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer christlichen Frau, lehnt aber die umgekehrte Verbindung ab. Sicher ist es richtig, dass die familiale Endogamie [das Heiraten innerhalb derselben ethnischen Gruppe], wie sie in der Türkei existiert, ein Wiederaufleben der ethnischen Endogamie im Aufnahmeland erleichtert. Das reicht als Begründung jedoch nicht aus. Dass vergleichsweise wenige türkische Frauen Deutsche heiraten, illustriert vielmehr einen Wesenszug des anthropologisch begründeten deutschen Differenzialismus: die Weigerung der dominanten Gruppe, sich mit den Frauen der dominierten Gruppe zu liieren. Auf der türkischen Frau lastet in Deutschland, ebenso wie auf der schwarzen Frau in den USA, ein Tabu.

Ist das in Frankreich anders?

In Frankreich gelingt es der aus dem Maghreb stammenden islamischen Bevölkerung nicht, ihre ethnische Endogamie aufrechtzuerhalten. Gerade die jungen maghrebinischen Frauen legen eine besondere Fähigkeit an den Tag, sich in die westliche Kultur zu integrieren.

Entscheidend ist also die Beschaffenheit der aufnehmenden Gesellschaft?

Richtig, ich würde sogar von der Allmacht des Einwanderungslandes sprechen. Die Anthropologie legt offen, dass in allen großen postindustriellen Nationen eine besondere unbewusste Matrix existiert, die über die Vorstellung vom Ausländer und somit letztlich auch über sein Schicksal entscheidet. Gerade für Deutschland gilt – trotz der positiven Veränderungen, die ich in den letzten Jahren sehe –, dass es sich um eine relativ geschlossene Gesellschaft handelt.

Wie äußert sich das konkret?

Nehmen wir etwa die Fixierung auf den Islam. Es ist eine sehr deutsche Tradition, Gruppen nach religiösen Merkmalen voneinander zu unterscheiden. Die religiöse Etikettierung hat im Islam eine ideale Differenz gefunden; er scheint dazu geeignet, die Nachfolge der katholischen, protestantischen oder jüdischen Differenz anzutreten. Gerade in Hinblick auf die türkischen Einwanderer fällt dies auf: Obwohl viele Türken zum Zeitpunkt ihrer Ankunft eine laizistische Variante des Islam repräsentierten, hat dies die deutsche Aufnahmegesellschaft nicht daran gehindert, sie als Muslime zu charakterisieren.

Und diese besinnen sich durch diese soziale Ausgrenzung dann erneut auf ihre religiöse Tradition?

Ja. Insofern kann man sagen, dass es die deutsche Umgebung ist, die die paradoxe Entwicklung einer Islamisierung der Türken hervorbringt. Der deutschen Gesellschaft liegt offensichtlich an der Schaffung einer stabilen Randgruppe, die sich durch eine ethnische wie zugleich religiöse Besonderheit auszeichnet.

Wird sich dies im Umgang mit den jungen Einwanderergenerationen nicht von selbst ändern?

Die deutsche Gesellschaft nimmt Unterschiede deutlich wahr und produziert sie immer wieder neu. Das Hin-und-her-Gerissensein zwischen der Betonung der Differenz und dem Traum von Homogenität ist ein altes deutsches Leiden. Es ist nur logisch, dass die deutsche Einwanderungspolitik zwischen Eingliederung und Ausgrenzung schwankt. Deutschland kommt mit dem ethnischen Eigensinn, den es selbst gefördert hat, nicht zurecht. In einem differenzialistischen Umfeld führt eine Verminderung des objektiven Andersseins, wie es der Generationenwechsel mit sich bringt, durchaus nicht dazu, dass die Angst der Aufnahmegesellschaft abnimmt, im Gegenteil.

Und in Frankreich?

Die republikanische Nation Frankreich dagegen definiert sich ebenso über ihre Zukunft wie über ihre Vergangenheit. Daher macht im französischen kulturellen Kontext ein starkes Nationalbewusstsein die Assimilation einfacher. Frankreich ist es gelungen, die Demokratie aus ihrer ursprünglichen ethnischen Schale herauszulösen und die Gesamtheit der Bürger zu definieren, ohne dabei die Begriffe Rasse oder Blut ins Spiel zu bringen.

Wie passt hier aber das Phänomen Le Pen ins Bild?

Im Wahlkampf haben sich alle Seiten geradezu in eine Hysterie bei der Frage der inneren Sicherheit hineingesteigert. Es war absehbar, dass diese Debatte Le Pen stärken würde. Die Probleme der französischen Vorstädte sind doch in Wirklichkeit soziale Probleme. Frankreichs Bevölkerung ist, wie in anderen europäischen Staaten, überaltert. Was sich da in den Vorstädten abspielt, das Chaos, die Jugendkriminalität, die alle Hautfarben hat, erschreckt insbesondere die älteren Bürger. Die Stimmungsmache ist hier auf fruchtbaren Boden gefallen.

Wie sind Ihre Zukunftsprognosen für Frankreich und Deutschland?

Beide Gesellschaften befinden sich in einem rasanten Wandel. Auch die anthropologischen Systeme und Familienstrukturen ändern sich und nähern sich an. Dies wird sich auf lange Sicht auch auf den Umgang mit Einwanderung auswirken. Ohne die eben dargestellten Analysen wieder in Frage stellen zu wollen, veranlasst mich diese Entwicklung dazu, heute nicht mehr so schematisch zu denken wie noch vor einigen Jahren. Insgesamt gesehen bin ich vorsichtig optimistisch und davon überzeugt, dass man sich in allen Einwanderungsgesellschaften sagen muss: Wir werden es schaffen, auch wenn es mühsam und nicht ohne Schmerzen und Wunden vonstatten gehen wird. Kulturverlust, Entwurzelung, Ausgrenzung gehören notwendigerweise zu diesem Prozess. Wir müssen lernen, mit diesen Übergängen zu leben und einen langen Atem zu haben.