berliner szenen Texte gehen schlecht

Keine Eltern mehr

Erwartungen der Eltern sollte ein Einzelkind nicht leichtfertig enttäuschen. Diese Erfahrung musste auch mein Freund A. machen. Studieren durfte er, sogar in Berlin, aber was Sicheres: Studienrat oder Beamter sollte er werden. Doch der Mensch ist frei geboren, souverän setzte sich A. darüber hinweg und wurde Literaturwissenschaftler. Das Ergebnis? A. ist arm. Texte gehen schlecht, die Wissenschaft stagniert. Währenddessen werden A.s Eltern von Erbschaft zu Erbschaft reicher. Umverteilung tut Not, allein sie sehen es nicht ein.

„Zur Urlaubszeit werden sie immer sentimental“, meinte A. vor einer Woche hoffnungsvoll und fuhr in die alte Heimat: „Eine Sommergratifikation wird drin sein.“

Kurz darauf traf ich ihn, er war am Boden zerstört: „Keinen Cent hatten sie für mich. Der Kühlschrank war leer geräumt, mein Zimmer untervermietet. Alles sei so teuer geworden mit dem Euro, klagten sie, und das nach Urlaub in Norwegen. Dem Neuen Markt ginge es ja auch sehr schlecht, meinte mein Vater noch, dabei haben sie überhaupt keine Aktien!

Und als ich ihn dezent auf die warme Hand hinwies, die lieber gibt als die kalte, fragte er nur, ob ich vom Rauchen schon Durchblutungsstörungen hätte. Die Kinder der Bekannten seien ja mittlerweile alle was geworden, selbst meine Kusine habe es geschafft. Einen reichen Mann hat sie geheiratet und der hat ihr ein Fitnessstudio eingerichtet! Ich bin sofort zur Autobahn und zurückgetrampt. Eltern? Ich habe keine Eltern mehr!“

Einige Tage später hatten sich die Lage und A. etwas beruhigt. „Sie haben mir eine größere Summe überwiesen, wegen der Steuer.“ Und seine Freundin wird ihm ein Schreibbüro einrichten.

CARSTEN WÜRMANN