Erst das Wasser, dann die Tränen

aus Grimma BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Gesine Pohle hat schon als Kind davon geträumt, eines Tages ihren eigenen Blumenladen zu eröffnen. Nach vier Jahren Arbeitslosigkeit, einer Umschulung zur Floristin, mehreren Selbstständigkeitslehrgängen und einer Ausbildereignungsprüfung erfüllte sich die gelernte Facharbeiterin für Nachrichtentechnik diesen Traum. Die 40-Jährige eröffnete in der Langen Straße, der Haupteinkaufsstraße in der historischen Altstadt von Grimma, die „Blumenstube“. Mit ihren Ersparnissen und einem Kredit. Doch vor einer Woche wurde aus dem Traum ein Albtraum. In nur drei Stunden stieg die Mulde um acht Meter und setzte das Zentrum der knapp 19.000 Einwohner zählenden Stadt unter Wasser. Durch die Innenstadt, die in den letzten Jahren für 50 Millionen Mark saniert wurde, ziehen jetzt Tausende von Helfern mit Schaufeln auf dem Rücken. Sie sehen aus wie Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren.

Erst am 20. Juli hatte Gesine Pohle ihre „Blumenstube“ in einem sanierten Haus aus dem 16. Jahrhundert eröffnet, nicht einmal einen Monat vor der verheerenden Überschwemmung. Nun steht die kräftige Frau mit den blond gefärbten Haaren vor den Trümmern ihrer Existenz. Das Hochwasser hatte ihr Geschäft gut anderthalb Meter unter Wasser gesetzt. Geblieben sind kaputte Einrichtungsgegenstände, eingedrückte Fensterscheiben und der Schlamm, der sich in jeder Ritze festgesetzt hat. Nur die alte Holzdecke und einige wenige Pflanzen haben die Katastrophe unbeschadet überstanden.

Gesine Pohle war gerade auf dem Weg vom Blumengroßmarkt in ihr Geschäft, als sie im Radio von der Überschwemmung der Innenstadt hörte. „Da bin ich zusammengebrochen“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme. Doch seitdem die Ladeninhaber wieder ihre Geschäfte in der Langen Straße betreten dürfen, entwickeln sie eine Kraft zum Wiederaufbau, die der Kraft der Wassermassen in nichts nachsteht. Gebremst wird dieser Wille nur durch den fehlenden Strom. Abends um acht müssen alle nach Hause. Dann patrouillieren Polizisten durch die Straßen, um Plünderungen vorzubeugen.

Gesine Pohle, die in Leipzig wohnt, hatte sich wegen der schönen Lage für das Geschäft in Grimma entschieden. „Kaum war der Laden fertig, habe ich eröffnet und gleich verkauft“, sagt sie. „Der Laden wurde in der kurzen Zeit sehr gut angenommen.“ Als sie davon erzählt, wie gut es sich angefühlt hat, statt mit Arbeitslosengeld zu Hause zu sitzen, abends den eigenen Laden zuzuschließen, füllen sich ihre Augen mit Tränen.

Sich selbst bezeichnet Gesine Pohle als bodenständig. Eine Haltung, die sie jetzt vor der Verzweiflung rettet. Natürlich treffe sie die Vernichtung ihrer Existenz „sehr hart“, sagt sie. Doch noch viel schlimmer dran seien die Menschen, die das Dach über dem Kopf verloren haben. Über die Schadenshöhe will sie nicht sprechen. „Das ist privat.“ Wie sie den aufgenommenen Kredit abbezahlen soll, weiß sie derzeit nicht. Nur eins weiß sie ganz genau. „Ich fange wieder bei null an.“

Der Kredit war fast abbezahlt

Wilfried Fehn hat vor vier Jahren wenige Meter weiter in der Langen Straße zusammen mit seiner Frau ein Musikcafé mit Restaurant, Bar und Tanzfläche eröffnet. Das Ehepaar hätte noch zwei Jahre gebraucht, um den Kredit abzubezahlen. „Es hätten noch 13.000 Mark gefehlt“, sagt der Mann mit dem Schnauzbart. Insgesamt hat das Ehepaar 150.000 Mark investiert. 30.000 Mark davon waren Ersparnisse. Mehrmals hatte der Tiefbaumeister seinen Job verloren, weil die Arbeitgeber in Konkurs gegangen waren. Seine Frau Beate, eine gelernte Fachverkäuferin, war drei Jahre lang arbeitslos.

„Durch die Arbeitslosigkeit kam die Idee mit dem Café“, erzählt der 40-jährige Wilfried Fehn. „Wir hatten die Schnauze voll und dachten, jetzt oder nie“, ergänzt seine 43-jährige Frau Beate. „Und von heute auf morgen ist nun alles futsch.“ Geblieben sind den Fehns einige Stühle und Gläser, und mit viel Glück sind die Schallplatten aus der Sammlung, die Wilfried Fehn seit seinem 14. Lebensjahr zusammengetragen hat, noch brauchbar.

Wie es weitergehen soll, weiß er nicht. Den angekündigten Hilfsprogrammen steht er skeptisch gegenüber. „Die Banken spielen doch garantiert nicht mit“, sagt er resigniert. Statt unbürokratischer Hilfe erwartet er endlose Behördengänge. Er befürchtet, dass die Leute mit den Versprechungen „erst mal ruhig gestellt werden sollen“. Als sich die Fehns selbstständig machten, seien versprochene Förderungen auch nicht eingehalten worden. „Wieso soll das jetzt anders sein?“ Da setzt Wilfried Fehn lieber auf die Unterstüzung der Brauereien. „Die haben sich schon gemeldet und gesagt, dass das, was wir abbezahlen müssen, gestundet wird.“

Auf dem völlig durchnässten Billardtisch liegen triefend nasse Ordner mit Gesundheitszeugnissen, mit Strom- und Telefonrechnungen, mit Geschäftsunterlagen. Auf einem Flugblatt bietet eine Firma für mehr als 20 Euro am Tag Trocknungs. und Luftentfeuchtungsgeräte an. „Es ist eine absolute Frechheit, mit dem Elend anderer Kohle zu machen“, schimpft Winfried Fehn. „Wovon sollten wir das denn bezahlen?“ Umso mehr freut er sich über die unentgeltliche Unterstützung vieler Jugendlicher, die die nassen Tapeten abreißen und das letzte Wasser hinausfegen. Das Musikcafé wurde vorwiegend von Jugendlichen besucht, und für viele von ihnen ist es selbstverständlich, den Fehns zu helfen.

Das Gastronomenehepaar rechnet ein Vierteljahr bis zur Wiedereröffnung. Wie die beiden bis dahin finanziell über die Runden kommen, wissen sie nicht. Derzeit lebt das Ehepaar, das zwei Kinder hat, von 300 Euro Kindergeld. Auch das Haus im sieben Kilometer entfernten Großbothe ist mit Krediten belastet. Vom Hochwasser ist es nicht betroffen. „Gott sei Dank“, sagt Beate Fehn, „sonst könnte man sich gleich einen Strick nehmen“.

Die Jubiläumsfeier ist abgesagt

Fleischermeister Fritz May, der sein Geschäft in seinem Wohnhaus wenige Meter von der Langen Straße entfernt hat, wollte in wenigen Wochen ein großes Jubiläum feiern. Am 5. September wird die von seinem Großvater gegründete Fleischerei einhundert Jahre alt. Doch an Feiern ist nicht zu denken. „Rundherum gibt es Zerstörung und Trauer, und der Fleischer feiert“, sagt er, „das geht nicht.“ Nun wird er das Jubiläum auf unsichtbare Art begehen. „Im Kopf“, wie er sagt. „In Anerkennung derer, die das aufgebaut haben.“

Jetzt gilt es erst einmal, die Schäden des Hochwassers zu beseitigen. Der gekachelte Hof stand bis Dienstag vergangener Woche unter Wasser. Es riecht nach Schlamm und Fleisch, und wieder fließt Wasser. Diesmal kommt es aus Schläuchen. Metallwannen, Tische und Edelstahlmaschinen müssen vom Dreck befreit werden. Dem Fleischermeister, an den Füßen weiße Gummistiefel, im Mundwinkel ein Zigarillo, fällt es schwer, sich über die ersten Zeichen des Wiederanfangs zu freuen.

In den ersten drei Tagen nach der Überschwemmung hat er so viel Wasser verbraucht wie sonst in einem Monat, schätzt er. „Seien wir doch mal ehrlich“, sagt Fritz May und zieht an seinem Zigarillo, „wenn die angekündigte Unterstützung wirklich unbürokratisch sein soll, müsste das Wasser, das in den acht Tagen nach der Überschwemmung durch die Wasseruhr gelaufen ist, umsonst sein.“ Das habe er dem Bürgermeister vor einigen Tagen in einem Gespräch gesagt. Doch May erwartet keine Wunder. „Der Bürgermeister muss sich doch auch erst mal schlau machen.“

Fritz May steht im Kühlraum seiner Fleischerei und inspiziert die 70.000 Mark teure Maschine, mit der Wurstbrät zerkleinert wird. Weil er alle Hände voll zu tun hat, fasst er die hundertjährige Firmengeschichte in nur einem Satz zusammen. „Beim Kaiser angefangen, Adolf mitgemacht, dann die Kommunisten und seit 1990 die Bundesrepublik.“

Sicher ging es dem Fleischermeister, der das Geschäft vor dreißig Jahren von seinem Vater übernahm, zu DDR-Zeiten finanziell besser als vielen anderen. Doch er erinnert daran, dass es zu DDR-Zeiten eher eine Strafe war, ein Haus erhalten zu müssen. Und er erinnert weiter daran, dass er nach der Wende seinen Betrieb mit einem hohen Kredit auf den neuesten Stand bringen musste. „Da kommt schnell eine Million zusammen.“ Außerdem waren die letzten Jahre in der Region wirtschaftlich schwach, und die Branche wurde von BSE und anderen Lebensmittelskandalen gebeutelt. „Das war wirtschaftliche ein richtiger Minushammer“, sagt Fritz May.

Und nun das Hochwasser. Bisher hat er die Hälfte des nach der Wende aufgenommenen Kredits abgezahlt. Wie hoch der entstandene Schaden ist, weiß er erst, wenn er wieder Strom hat und seine Maschinen durchprobieren kann. Doch May rechnet mit dem Schlimmsten und fühlt sich an seinen Großvater erinnert, der das Geschäft nach dem Krieg wiederaufgebaut hat. „Zur Not fangen wir eben ganz klein mit einem Verkaufswagen an.“