Ein deutscher Weg

Wenn man in diesen Tagen über Willy Brandt und sein Wirken nachdenkt, dann kommt einem unwillkürlich die deutsche Einheit in den Sinn. (…) Sein Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ ist längst zum geflügelten Wort geworden. Heute, knapp 13 Jahre später, erleben wir angesichts der Hochwasserkatastrophe (…), dass aus der deutschen Einheit jetzt die Einheit der Deutschen wird (…). Dort, wo jahrelang von Kritikern verschiedenster Couleur eine „Mauer in den Köpfen“ ausgemacht wurde, wächst eine Einheit der Herzen.

Zugleich beweist sich Europa als ein Kontinent der Partnerschaft und der gemeinsamen Verantwortung. Als ein Europa, dem es im Augenblick von Katastrophe, Zerstörung und großem menschlichen Leid nicht mehr darauf ankommt, ob einer schon Mitglied der Europäischen Union ist oder noch Beitrittskandidat. (…) Ich denke, beides – die deutsche und die europäische Solidarität – sind Erfüllungen des Lebenswerks von Brandt, der ja zeit seines Lebens patriotischer Deutscher und leidenschaftlicher Europäer gewesen ist.

(…) Meine Damen und Herren, zwei der sieben Bundeskanzler, die seit der Gründung unseres Staates die Regierung führten, haben der Republik vor den Augen der Welt ihre Prägung gegeben. Der eine war ohne Zweifel der Christdemokrat Konrad Adenauer, dessen Gestalt über zwei Weltkriege und die Nazi-Diktatur hinweg in unsere Epoche herüberzuragen schien. (…) Der zweite Kanzler aber, dessen Gesicht mit dem der Republik identisch wurde, war der Sozialdemokrat Willy Brandt. Er hielt die Macht nur viereinhalb Jahre: knapp ein Drittel der Zeitspanne, die Adenauer, dem Urkanzler, als Regierungschef zur Verfügung stand.

Aber auch sein Rücktritt im Mai 1974 war ein bedauerter, aber vorzüglicher Ausdruck seiner Persönlichkeit, seines durch und durch demokratischen Verhältnisses zur Macht. Es war dies übrigens kein romantisches oder moralisch übersteigertes Verhältnis. In seiner großen Abschiedsrede zum Ausscheiden aus dem Parteivorsitz 1987 formulierte Willy Brandt das in seiner unnachahmlichen, auch mir unvergessenen Art, als er sagte: „Es mag ja sein, dass Macht den Charakter verderben kann – aber Ohnmacht meinem Eindruck nach nicht minder.“

So hatte „Macht“ bei Willy Brandt eben auch mit „Machbarem“ zu tun – doch vor allem mit Verantwortung. Und so wurde selbst sein Rücktritt von der Kanzlerschaft zu einem der großen Augenblicke seines politischen Weges, die seine Landsleute, die unsere europäischen Nachbarn, unsere Partner und Verbündeten in aller Welt niemals vergessen werden.

So wenig wie natürlich auch das Bild des knienden Kanzlers vor dem Erinnerungsmal im Ghetto von Warschau: Hier nahm ein Mann, der im Kampf gegen den nazistischen Ungeist und die Untaten dieses Nazi-Deutschland seine Heimat verlassen und das Exil auf sich genommen hatte, hier nahm ein Mann der sauberen Hände und des sauberen Gewissens, ein Mann des „anderen Deutschland“, die historische Verantwortung seines Volkes auf sich.

„Ein Deutscher übernimmt Schuld, ohne schuldig zu sein“, hat Egon Bahr über diesen Kniefall seines Freundes Willy Brandt geschrieben. Der passionierte und zugleich so demütige Patriotismus, der sich in jener Geste reiner Menschlichkeit ausdrückte, wurde damals längst nicht von allen unseren Landsleuten verstanden und erst recht nicht von allen gebilligt.

Für die Welt aber zeigte sie die Heimkehr Deutschlands in die Familie der gesitteten und freien Völker an. Und dies ist, weit über das ausgedrückte Bekenntnis zu Schuld und Verantwortung, eine Langzeitwirkung jener Geste des 7. Dezember 1970. Ich habe das selbst gespürt, als ich dreißig Jahre später gemeinsam mit Aleksander Kwaśniewski des historischen Augenblicks gedacht habe. Ohne dass wir es aussprechen mussten, war uns in diesem Moment und an diesem Ort klar: Hinter diese Geste, die ja die Versöhnung und die Einheit Europas in gewisser Weise vorweggenommen hatte, würde kein Weg mehr zurückführen.

Meine Damen und Herren, natürlich hat es ein Element von Ungerechtigkeit, hier die beiden Namen Adenauer und Brandt so herauszustellen. Die Geschichte hat es gefügt, dass Helmut Kohl, der sich in seinen Anfängen gern als den „Enkel Konrad Adenauers“ vorstellte, der Vollzug der Vereinigung zufiel. Er hat, dies wird ihm niemand aberkennen, die Chance einer einmaligen Konstellation, die vielleicht niemals wiedergekehrt wäre, mit kluger Behutsamkeit genutzt.

Genauso wichtig: Wie könnte ein Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei die acht Jahre der Kanzlerschaft Helmut Schmidts geringer schätzen als das Werk und die Wirkung seines Vorgängers Brandt! Das verböte sich nicht nur aus Gründen des Respektes, der historischen Vernunft und der Gerechtigkeit – für mich selber wäre das schnöde Treulosigkeit. Sagen wir es so: Willy Brandt haben wir geliebt – Helmut Schmidt geachtet. Er hat es uns nicht leicht gemacht. Übrigens bis heute nicht.

Helmut Schmidt war mehr als der kluge Verwalter der Erbschaft Brandts. Er hat den Stil demokratischen Regierens in der Bundesrepublik auf seine Weise gestaltet. Nüchterner, aber doch – oder eben darum – ein brillanter Parlamentarier. Auch ohne die Inspiration des Visionären, das er immer ein wenig fragwürdig, nach seinem überlieferten, etwas saloppen Ausspruch sogar medizinisch versorgungsbedürftig fand.

Den Anspruch auf die geistige, die moralische Führung des Volkes wies er für die Politik ausdrücklich zurück – und erfüllte ihn dennoch, gleichsam hinter seinem eigenen Rücken. Helmut Schmidt selbst hat einmal gesagt, er habe nicht das „Glück“ eines epochalen Auftrags vom Rang der Ostpolitik genossen. (…) Helmut Schmidt hat unsere Partei und seinen persönlichen Anhang in der Bevölkerung, der nicht auf die klassischen Wähler der SPD begrenzt war, gleichsam die Normalität der Machtausübung gelehrt: pragmatisch und mit Augenmaß.

Das hieß freilich auch, dass er der Neigung zu einem chronisch hochgestimmten Ausnahmezustand in den Seelen mancher Jungidealisten im Gefolge Willy Brandts gelegentlich brüsk, manchmal vielleicht auch allzu brüsk entgegentrat. Für Brandt wiederum war es nicht leicht, den meist akademisch geprägten Zuzug aus den Reihen der Achtundsechziger, die sich häufig in einer wahren Theoriebesessenheit verirrten, zur notwendigen Disziplin einer Regierungspartei zu erziehen.

Auch wenn ich damals als Jungsozialist noch anders abgestimmt habe: Willy Brandts klare Worte, die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln führe keineswegs automatisch zu mehr Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit, sondern zum Gegenteil von alledem, haben mich schon seinerzeit zum Nachdenken gebracht. Jedenfalls machte er ernst mit der „Versöhnung der Generationen“, wie er es auf dem Nürnberger Parteitag 1968 nannte: mit der Integration der Protestierenden in die SPD.

Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie der Autor Gunter Hofmann, der darin den Augenblick sieht, in dem „die rot-grüne Regierung Schröders und Fischers (…) möglich gemacht“ wurde. Aber der Partei, die ja unter seiner Führung längst Volkspartei geworden war, die „Angst vor Außenseitern“ und vor neuen Fragestellungen zu nehmen, sie zu öffnen auch für die „Ungereimtheiten und Widersprüche“ solcher Protestbewegungen – das bleibt sein großes Verdienst. Lange Jahre brachte es der „Vorsitzende“ zuwege, wie der Exkanzler Brandt nun hartnäckig genannt wurde, Helmut Schmidt den Rücken freizuhalten. Eine Leistung, die der Nachfolger vielleicht nicht immer genug zu schätzen wusste.

Dann allerdings stand der so genannte Nato-Doppelbeschluss zur Debatte, der die Bestückung Osteuropas durch die sowjetischen SS20-Raketen mit der Installierung der „Pershing“ ausbalancieren sollte, der zugleich aber – und dies war wiederum das große Verdienst Schmidts – Verhandlungen über eine substanzielle Abrüstung anbot. In dieser zugespitzten Diskussion war die friedensbewegte Linke in- und außerhalb der Partei nicht mehr zu bändigen.

Brandt selber neigte der Meinung zu, man komme ohne die „Pershing“ aus. Damit aber brach die innerparteiliche Mehrheit für Helmut Schmidt endgültig fort. Die Geschichte gab dem Kanzler Schmidt am Ende Recht: ich sage dies, mein eigenes Urteil in jenen Jahren bewusst korrigierend. (…)

Keine dieser Entwicklungen wäre ohne die Ostpolitik Brandts, die er in engster Kooperation mit Egon Bahr ins Werk gesetzt hatte, jemals möglich gewesen. Einer von denen, die jene Politik der tastenden „kleinen Schritte“, die schließlich in die Konzeption des „Wandels durch Annäherung“ mündete, mit chronischem Misstrauen beobachteten, war Henry Kissinger, der Spiritus Rector der amerikanischen Außenpolitik. Die weitschauende Strategie, die jene Offensive der Freiheit lenkte, war Brandts Erfindung. Sie zählt zu seinen historischen Meriten, für die ihm die westliche Welt eigentlich ein Ehrenmal schuldet. Willy Brandt war schließlich der Mann, der später das stolze Wort von der „Friedensmacht Deutschland“ wagte. (…)

Willy Brandt traf im Januar 1947, als Beobachter der norwegischen Regierung, im eiskalten und halb verhungerten Berlin ein (…). Weiß Gott: Es war nicht selbstverständlich, in jener düsteren Epoche von Neuem Deutscher zu werden. (…) Die Rückkehr war ein patriotisches Opfer – und sie war, wenn Sie so wollen, ein europäisches und sozialdemokratisches Opfer, zuerst und zuletzt auch ein Opfer der Liebe von Rut Brandt, die es auf sich nahm, das friedliche Behagen ihrer norwegischen Heimat preiszugeben und sich den Entbehrungen auszusetzen, die sie in Berlin erwarteten. (…)

Meine Damen und Herren, der Lebenserfolg Willy Brandts – so sagt es Klaus Harpprecht, der ihn so gut kannte und dem ich für den heutigen Vortrag großartige Anregungen und Vorarbeit verdanke – lässt sich vielleicht auf die schlichte Fromel bringen, dass er es stets zuwege gebracht hat, eine Minderheit in eine Mehrheit zu verwandeln. Und zwar mit Geduld, Zähigkeit, Weitblick und Mut. (…) Ihm traute man [als Kanzlerkandidat 1961; d. Red.] am ehesten zu, den Anspruch auf die politische Mitte glaubhaft zu verkörpern, mit anderen Worten: dass er auch bürgerliche Wähler für die SPD gewinnen könne. (…)

Die Ostpolitik setzte, das betonte [Brandt] wieder und wieder, die feste Verankerung der Bundesrepublik im Westen voraus, ja er verstand sie als die konsequente Weiterführung der Westpolitik. Sein Engagement für den Fortschritt des europäischen Einigungswerkes aber wird bis heute mit merkwürdiger Beharrlichkeit unterschätzt. Es ist wahr, dass Brandts Partnerschaft mit Präsident Pompidou, in vieler Hinsicht ganz der traditionelle Typus des konservativen französischen Intellektuellen, nicht so eng und so herzlich war wie Adenauers Beziehung zu de Gaulle, Helmut Schmidts Freundschaft mit Giscard d’Estaing oder Helmut Kohls seltsame und dennoch produktive Partnerschaft mit François Mitterrand.

Indes: Im Dezember 1969, wenige Monate nach dem Beginn der ersten Kanzlerschaft Willy Brandts, einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft über die Gründung der Europäischen Union, präziser: über eine Wirtschafts- und Währungsunion, die bis 1980 Wirklichkeit werden sollte. Die Erfüllung des Auftrags verzögerte sich um zwei Jahrzehnte: aber Willy Brandt und seine Partner hatten das Ziel abgesteckt. (…) Mit einem Wort: der Europäer Willy Brandt muss neu entdeckt werden. (…)

Der Anlauf, den Brandt zu bewältigen hatte, war lang. Die Wahl von 1965 bescherte der SPD eine Steigerung ihres Stimmenanteils auf fast 40 Prozent. Der Fortschritt Richtung Mitte setzte sich fort. (…) Wehner nutzte 1966 die Krise der Regierung Ludwig Erhard, um die Bildung der großen Koalition zu erzwingen. Brandt, der sich am liebsten mit dem Forschungsministerium begnügt hätte, ließ sich davon überzeugen, dass er als Vizekanzler und Außenminister genauso weit vorn agieren müsse wie Kiesinger. (...)

Willy Brandt wagte, nach einem weiteren Stimmengewinn von 3 Prozent, die Regierungsbildung mit der geschwächten FDP, obwohl die Mehrheit im Bundestag hauchdünn war. Die Geschichte hat seinen Mut belohnt. Und nach dem gescheiterten Misstrauensvotum der Union führte Brandt die SPD zum größten Triumph ihrer Geschichte: zum ersten Mal in der parlamentarischen Geschichte der Deutschen wurde sie, mit 45,8 Prozent der Stimmen, die stärkste Partei. Auch die Freien Demokraten Walter Scheels, die den Namen eher verdienten als ihre unseriösen Erben von heute, sahen sich gekräftigt.

Brandts offensive Argumentation, seine moralische Herausforderung, sein Mut zur Polarisierung, der stets von seiner Bereitschaft zur Versöhnung, zum inneren Frieden, zur praktizierten Menschlichkeit begleitet und aufgefangen wurde, gewannen ihm die Sympathie und das Vertrauen vieler Wähler, die zuvor niemals auch nur erwogen hatten, für die SPD zu stimmen. Die Sozialdemokratie drang weit ins so genannte bürgerliche Lager vor. Brandt warb für einen „neuen Bürgergeist“, die Eroberung der Mitte war geglückt.

Hier bleibt nicht die Zeit, die komplizierten Gründe für die rasche Zermürbung der zweiten Regierung Willy Brandts und für seinen Rücktritt zu untersuchen. Aber er blieb der Partei, die er als Vorsitzender bis zum Jahre 1987 führte, ja mehr als nur „erhalten“: Fast ein Vierteljahrhundert hat Willy Brandt die Sozialdemokratie so entscheidend geprägt wie vor ihm wohl nur August Bebel. (…)

Und noch etwas darf in diesen Tagen der Vorbereitung auf den Johannesburger Gipfel zur nachhaltigen Entwicklung in der Welt keinesfalls unerwähnt bleiben: Willy Brandts ebenso engagierte wie couragierte Arbeit als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission, die in ihrem Abschlussbericht 1980 vieles vorweggenommen und thematisiert hat, was uns heute als dringende Verpflichtung aufgegeben ist.

Brandt schrieb schon damals, „dass die Neugestaltung der weltweiten Nord-Süd-Beziehungen für die Zukunft der Menschheit zu einer Frage von schicksalsschwerer Bedeutung geworden“ sei. Nichts anderes nehmen wir deutschen Sozialdemokraten uns heute zu Herzen, wenn wir, gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden, sagen, dass globale Sicherheit nur mit globaler Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung zu erreichen ist.

Meine Damen und Herren, in seiner Abschiedsrede am 14. Juni 1987 sagte Willy Brandt, dass er vielleicht der letzte Vorsitzende gewesen sei, der aus der Arbeiterschaft gekommen und in der alten Arbeiterbewegung aufgewachsen sei. Das zweite trifft zu. Die erste Vermutung wurde widerlegt. Das klassische Milieu der Arbeiterbewegung, das seine eigene Kultur entwickelte, die den Genossen von der Wiege bis zur Bahre eine Art Geborgenheit bot – dies gab es in meiner Jugend nicht mehr. Doch stolz auf eine Biografie als Arbeiterkind zu sein, das gibt es immer noch. Und auf dieser Basis den Herrschaftsanspruch deutscher Konservativer zurückzuweisen, das ist Teil meines Selbstverständnisses.

Doch Willy Brandt war immer Deutscher, Europäer und auch Weltbürger. Von der Nation sagte er in seiner Abschiedsrede zu Recht, sie sei bei der demokratischen Linken immer besser aufgehoben gewesen als bei anderen. Dies, fügte er hinzu, gelte gleichermaßen für die „große Aufgabe der europäische Einigung“. Schmidt, den man wohl einen kritischen Partner Brandts nennen darf, hat in seinem Erinnerungsbuch den Patriotismus seines Vorgängers hervorgehoben, und er befand, dass die Geschichte Adenauer und Brandt zugleich Recht gegeben habe. So ist es.

Der konservative Christdemokrat vom Rhein und der libertäre Sozialdemokrat aus der Hansestadt Lübeck: sie sind, sie bleiben die prägenden Gestalten des ersten Halbjahrhunderts der Bundesrepublik Deutschland. (…) Diese Kontinuität ist auch Verdienst der beiden Staatsleute, die wohl beide – obwohl entschiedene Kontrahenten – für die Entwicklung der Demokratie unentbehrlich waren. Jedem gebührt auf seine Weise der schönere Titel vom „Friedenskanzler“. Sie haben – mit ihren Helfern – das andere Deutschland geschaffen. Alles in allem eine Wandlung zum Glück – zu unserem eigenen und dem unserer Nachbarn. Dabei soll es bleiben. Ich will dafür auch weiter mein Bestes tun.