Dokumentation
: Eine kleine Stadt unter großem Schock

Das Gasunglück am Geschwornenweg war eine der größten Katastrophen in der Bremer Nachkriegszeit. Wir dokumentieren in Auszügen die Reportage, die am 21. 11. 2000 in der taz bremen erschien.

Montagmittag, Buntentorviertel. Im zerborstenen Schaufenster des „Modehauses mit Herz“ steht eine Verkäuferin und gibt Interviews. Um sie herum große Zacken aus Glas; die Splitter auf dem Boden sind schon weggefegt. Einer ihrer Kollegen hält einen kleinen Hund mit rotem Halsband auf dem Arm, alle sind nervös. Noch weiß niemand hier, welche Folgen die verheerende Gasexplosion gehabt hat, die gestern Vormittag die Bremer Neustadt erschütterte.

Kurz nach elf Uhr. Nach einem trockenen Knall steigt über dem Buntentorsteinweg eine Staubwolke auf. Kurze Zeit später hat die Polizei die Straße komplett gesperrt. Überall liegt Glas auf dem Bürgersteig, elektrischen Strom gibt es nicht mehr. Unter den Menschen, die sich in Höhe der Meyerstraße stauen, machen erste Gerüchte die Runde: Das von der Heilsarmee genutzte Haus im Geschwornenweg sei in die Luft geflogen. Gas. Immer mehr Einsatzwagen von Polizei und Feuerwehr erreichen den Unglücksort. Die Polizisten an den Absperrbändern herrschen die Raucher an, ihre Zigaretten sofort zu löschen. Eine Dame im schwarzen Mantel will vorgelassen werden: „Da sind meine Eltern drin, ich muss doch wissen, was los ist!“

Um 11.45 Uhr berichtet ein Polizist, dass noch immer Gas ausströme. In der Ferne wird ein erstes Opfer – eine ältere Frau – auf eine orangefarbene Trage gebettet. Dazu kommen Fahrzeuge von der SWB, Grenzschützer, Kripo-Combis, ein Lastwagen für Schutt, ein Bagger. Die Feuerwehr stellt einen ganzen Omnibus für mögliche Opfer. Mehrere hundert Retter sind im Einsatz. Hundeführer wachen darüber, dass niemand die lädierten Schaufenster plündert. Kurz nach zwölf Uhr teilt Polizeipressesprecher Uwe Hoffman erstmals mit, dass das Gebäude Geschwornenweg 11 von einer Explosion zerstört worden sei.

Bisher habe man sechs Verletzte bergen können; insgesamt seien 31 Menschen unter dieser Adresse gemeldet. Die Anwohner der unmittelbar angrenzenden Häuser seien evakuiert worden. Dann geht alles ganz schnell: Innensenator Bernt Schulte (CDU) durchschreitet die Absperrung, gefolgt von den sanftgelb uniformierten Damen der Unfallseelsorge. Der Pressepulk hinterher. Die Straße. Es gibt kaum ein Fenster, dass nicht aus den Angeln gerissen oder zersplittert ist. Zerstörte Autos werden aus dem Weg geräumt, auf dem Bürgersteig liegen Koffer mit Notfallmedikamenten. Glassplitter überall. Das zerstörte Haus selbst ist ein Chaos aus Waschbetonplatten, Dämmwolle, zerborstem Holz, Steinstaub. Ein Teil des Gebäudes, das die Heilsarmee für Seniorenwohnungen nutzte, ist nicht zusammengestürzt – ein desaströses Puppenhaus, die Zimmer aufgebrochen. Im dritten Stock steht noch ein Philodendron. Für die Feuerwehr eine „Großschadenslage“. Bis zum späten Nachmittag hat die Feuerwehr, die den wackeligen Trümmerhaufen größtenteils in Handarbeit abtragen muss, 19 Verletzte geborgen. Noch am frühen Abend suchen die Retter fieberhaft nach drei Verschütteten, die sich über Handy gemeldet hatten. Nach wie vor ist unklar, ob es Tote gegeben hat, wie viele Vermisste es gibt. Um die Geretteten kümmert sich, stellvertretend für die Stadt Bremen, Sozialsenatorin Hilde Adolf, die sich vor Ort um ihre Unterbringung kümmert.

Währenddessen machen Gerüchte die Runde, dass es sich bei der Explosion, die laut Feuerwehr durch ausströmendes Gas ausgelöst wurde, auch um einen gemeinen Anschlag handeln könne: Die Heilsarmee in Lübeck habe einen anonymen Drohanruf erhalten, dass „sie als Nächste dran sei“. Auch von einer nahen Baustelle ist die Rede. Um halb sieben wird der erste Verschüttete geborgen. Milko Haase