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Onomastik – (k)eine ansteckende Krankheit

Im Rundfunk kultiger Wortschatzgräber, an der Leipziger Universität anerkannter Forscher und Professor – Jürgen Udolphs Doppelleben hält eines zusammen: die Namenkunde. Vor Hörern und Studenten tritt er täglich den Beweis an – Wissenschaft kann ziemlich spannende Detektivarbeit sein

von ANETT KELLER

„Ein Polizist hält einen zu schnellen Autofahrer an und guckt in dessen Autopapiere. Bleifuss heißt der Mann. ‚Alles klar‘, denkt sich der Polizist. Was für ein Trugschluss! Denn der Name Bleifuss hat mit zu schnellem Fahren nicht das Geringste zu tun. Bleifuss kommt von Blaufuß und Blaufuß ist ein Edelfalke.“ Jürgen Udolph lächelt verschmitzt. Geschichten dieser Art kann er erzählen, ohne Luft zu holen. Udolph ist Deutschlands einziger Professor für Onomastik mit Lehrstuhl an der Universität Leipzig. Die Hauptstädter kennen ihn jedoch als Radiounterhalter. Täglich ein Namensgeheimnis lüftet der 59-Jährige in der Radio-Eins-Sendung „Numen, Nomen, Namen“.

Rund 20 Minuten hat Udolph dafür Zeit, bevor er Rede und Antwort stehen muss. „Das ist wie ein Krimi – großartig!“, begeistert sich Udolph über seinen „Nebenjob“. „Und eine wunderbare Gelegenheit, den Menschen nahe zu bringen, dass Sprachwissenschaft eine hochspannende Angelegenheit ist.“

Spricht Udolph über Namen, beginnen seine blauen Augen hinter der schwarzgerandeten Brille zu leuchten. Er sieht sich selbst als Wortschatzgräber. „Menschen und Orte tragen einen Namen, aber keiner weiß eigentlich, warum die so heißen. Und das ist es, was ich mache. Ich frage: Warum heißen die so?“

Wenn diese Frage in der Sendung an ihn gerichtet wird, beginnt die Suche nach Quellen. Udolph sitzt dabei natürlich nicht im Potsdamer Radio-Eins-Studio, sondern in seinem Büro in der Leipziger Uni. Dort genügen wenige Griffe, um gesammeltes Namenwissen aus Jahrhunderten in den Händen zu halten. Udolphs Bürowände sind nicht zu sehen. Bis unter die Decke ziehen sich prall gefüllte Regale. Schwarz gebundene Bücher mit vergilbten Seiten, die noch aus dem vorletzten Jahrhundert stammen. Urkundenbücher, Landkarten, Ortsverzeichnisse, viele davon tragen slawische Titel. Brockhaus-Gesamtausgabe. Reihenweise Ordner mit selbst angelegten „Namenpfaden“.

12.10 Uhr, Sendezeit: Heute ist ein Enrico Schneekönig am Telefon. Udolph stürzt sich auf die große Bücherwand. „Na, da steh ich ja jetzt auf’m Schlauch!“ Gabriele Rodriguez, Namenberaterin mit Sitz in Udolphs Nachbarzimmer, versucht, dem Kollegen zu helfen: „Gibt’s da nicht so nen Vogel? Ach nee, das is ja der Zaunkönig.“

Dem Berliner Hörer dudelt ein Popsong ins Ohr, während in Leipzig auf Hochtouren gesucht wird. Seit fast vier Jahren läuft die Sendung, etwa 60.000 Hörer fiebern täglich mit. Wöchentlich flattern rund 50 E-Mails mit der Bitte um Namensklärung in die Redaktion. Auf die Idee zum Sendeformat kam ein Radio-Eins-Redakteur vor vier Jahren. Damals hatte Udolph zum Rattenfänger von Hameln geforscht und eine Verbindungslinie von der Weser zur Uckermark erkundet. Der Rattenfänger war ein Lokator, fand Udolph heraus, „einer, der Menschen ansiedelte, indem er ihnen blühende Landschaften versprach“. Die Deutsche Presse Agentur vermeldete, Udolph habe das Geheimnis um die verschwundenen Kinder gelüftet. Was folgte, waren Anrufe aus Südafrika bis New York und ein tagelanger Belagerungszustand in Udolphs Büro. Radio Eins blieb Udolph auf den Fersen.

Der Professor und seine Kollgin suchen fieberhaft weiter nach dem Schneekönig. Gabriele Rodriguez kramt Bücher hervor, auch eine Praktikantin wird mit eingespannt. Hektisches Seitenblättern, kurzes Innehalten: „Schneebauer, Schneeberger, Schneegans – dann verließen sie ihn“, fasst Rodriguez die Ergebnisse zusammen. „Man müsste über König suchen“, sagt Udolph und hastet zum klingelnden Telefon. Halbzeitpause. Udolph plaudert kurz mit Herrn Schneekönig: „Müssen Sie mit diesem Namen denn viel erleiden?“ Sagen könne er noch nichts Genaues, „aber ich schwitze hier schon ganz schön“. Zwei Musiktitel lang ist die zweite Spielzeit. Verlängerung gibt es nicht.

Was ein Name bedeutet, könnte der Hörer mit den entsprechenden Nachschlagewerken auch selbst herausfinden. Ein Laie ohne das „Gewusst wo“ würde aber wahrscheinlich Tage brauchen. Nicht nur das Tempo, sondern auch der immense Wissensfundus des Professors verdeutlicht, dass Onomastik kein Blätterspaß, sondern echte Wissenschaft ist. Familiennamen entstanden etwa vor 700 Jahren. Die Städte wuchsen und es reichte nicht mehr, wenn einer nur Karl hieß. Mit „Karl, der Bäcker“ oder „Karl aus der Gasse“ versuchte man, den Überblick zu behalten. Viele Namen sind mit Ortsbezeichnungen verwoben. Deshalb benötigen Onomastiker sprachwissenschaftliche, historische und geografische Grundlagen. Die lehrt Udolph seit zwei Jahren in Leipzig im Nebenfach Onomastik. Die Popularität des Professors sorgt für steigende Studentenzahlen. Udolph selbst kam über die Sprachwissenschaft zu seinem Fach. Sein hauptsächlicher Forschungsgegenstand sind nicht Familien-, sondern Ortsnamen.

Im Falle des Schneekönigs ist es aber weder ein Ort noch eine Profession, die schließlich Aufschluss gibt. Der letzte Musiktitel beginnt, gleich ist Udolphs Frist abgelaufen. Die Rettung bietet das Grimm’sche Wörterbuch, welches beweist, dass der erste Gedanke doch so oft der beste ist: „es ist ein klein grau sprencklicht vögelein, dass man den Schneekönig nennet“. Der Zaunkönig ist der Schneekönig. Der Professor schlägt sich vor die Stirn: „Na klar, es heißt ja auch ‚sich freuen wie ein Schneekönig‘. Aber woher das jetzt wieder kommt?“

Das Etymologische Wörterbuch wird aufgeschlagen: „Sich freuen wie ein Schneekönig bezieht sich auf das muntere Verhalten des Zaunkönigs.“ „Das is ja Wahnsinn“, bricht es aus Udolph heraus. Das Telefon klingelt. Etwas atemlos klärt er über den Schneekönig auf.

Der Hörer ist aufgelegt, Udolph schlägt ein Bein über das andere. „Wir ham’s geschafft!“ Er lehnt sich zurück. „Namen, die sich einfach anhören, sind total gefährlich. Dafür brauchen Sie ’ne Menge Erfahrung“, erklärt er der Praktikantin. „Das ist historische Sprachwissenschaft in Reinkultur.“ Manchmal, wenn Udolph Seminare hält, muss die Sendung aufgezeichnet werden. Deshalb hat er heute schon den Namen für morgen bekommen: Rahnenführer. „Toller Name, würd ich am liebsten sofort nachschlagen!“ Gleichzeitig warnt er die Praktikantin: „Das ist so irre spannend. Das kann echt zur Sucht werden!“

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