zwischen den rillen
: Zu Kopf gestiegen: Coldplay geben sich ambitioniert

Nur keine Blöße

Jüngsten Meldungen zufolge bedrücken den Sänger und Coldplay-Chefideologen Chris Martin derzeit zwei Fragen: Wird es in den nächsten Monaten zu dem befürchteten Totalausfall seiner Haarpracht kommen und er fortan so aussehen wie Phil Collins? Und wird das neue Album „A Rush Of Blood To The Head“ den Vorgänger „Parachutes“ hinsichtlich Größe, Anmut und Herrlichkeit überflügeln? Über fünf Millionen Einheiten hat die Band von „Parachutes“ verkauft, und nach allem, was man weiß, hatte sie nie damit gerechnet. Selbst als sich das Album von einem kleinen zu einem größeren, zu einem riesigem Erfolg entwickelte, der Anfang des Jahres noch mit einem Grammy belohnt wurde, zweifelte sie an ihrem Tun.

Denn wofür wurde sie gemocht? Für ihr treffendes Image, eine Band nüchterner, nicht rauchender Drogenverweigerer zu sein? Für ihre gutbürgerliche Herkunft? Für ihre Vergangenheit als Studenten? Für Zeilen wie „And I never meant to cause you trouble / and I never never meant to do your wrong / ah, well if I ever caused you trouble / oh no I never meant to do you harm“ – die wahrscheinlich schüchternsten, die seit langer Zeit gesungen wurden? Für ihre Musik, die so simpel war wie ihre Texte?

Chris Martin begann zu grübeln, legte seine Stirn in Falten und fand keine Antwort. Und weil auch die britische Fachpresse vollständig ratlos blieb, war für Chris Martin klar, dass mit dem Nachfolger der Beweis erbracht werden muss, dass Coldplay keine Band von Langweilern sind, die lediglich freundliche Gitarrenmusik zum Besten geben. Der große Wurf sollte also her: Einer, der vor Abwechslung, Komplexität und Tiefsinn nur so strotzte.

Wie man hört, sollen sich die Aufnahmen schwierig gestaltet haben. Einmal mussten sie aufgrund eines Kreativstaus das Studio wechseln, und dann brachte sie der 11. September aus der Ruhe. Mussten Lieder nicht fortan anders geschrieben werden? Nicht, dass Chris Martin plötzlich versucht war, wie die Kollegen Young oder Springsteen, Songs über Feuerwehrmänner zu schreiben – es war etwas anderes, was den Vollblutegomanen beunruhigte: das Konzept der Sterblichkeit, das sein Leben wie das World Trade Center zum Einsturz brachte und ihn darauf hinwies, dass auch er irgendwann zu gehen habe. Und so wollte er noch Erhabeneres und Bedeutsameres schaffen: ein Album, das die Zeit überdauert, obwohl es, wie er weiß, am Ende der Zeit niemanden mehr geben wird, der mit angemessener Ehrfurcht lauscht; ein Album, das es mit Radioheads „The Bends“ und U2s „The Unforgettable Fire“ aufnehmen kann – zwei Werke, die nach Martins Empfinden Maßstäbe gesetzt haben.

Und folglich hört man „A Rush Of Blood To The Head“ auch die gesamte Spielzeit über an, dass es von der eigenen Größe besessen ist. Die simplen Texte sind fort, die einfachen Arrangements Vergangenheit und auch die naive Leichtigkeit ist für immer verschwunden. Stattdessen beginnt das Album mit „Politik“, einer gehämmertem Zwei-Akkord-Komposition, die schon im Titel über das vermeintlich begrenzte Potenzial der Band hinausweisen möchte. Schon die Eingangszeilen „Look at earth from outer space / everyone must find a place / give me time and give me space / give me real, don’t give me fake“ arbeiten mit diesem gewissen Universalitätsanspruch, um sich aus Weltallperspektive den kleinen großen Menschheits- und Zwischenmenschlichkeitsproblemen zu nähern. Obwohl Coldplay sich dieses Mal um Abwechslung bemüht haben, die Songs mit allerlei kompositorischen Raffinessen angereichert und die Arrangements aufgeplustert haben, hat man nach dem ersten Hören den Eindruck, die Songs schon seit Ewigkeiten zu kennen. Das hat den Vorteil, dass man sich die Platte nicht erarbeiten muss. Das hat aber auch den Nachteil, dass es im Grunde nichts zu entdecken gibt.

„A Rush Of Blood To The Head“ ist eine Platte, die exakt so ist, wie sie ist: eingängig, kunstvoll, klassisch, kühn, bemüht, bemerkenswert, handwerklich perfekt. Aber sie ist nicht das, was Coldplay einmal waren: herzergreifend naiv, erschütternd ehrlich, umwerfend schüchtern, ergreifend simpel und großartig lebensbejahend. … „and we live in a beautiful world / yeah we do, yeah we do / we live in a beautiful world“ sangen sie auf ihrem Debüt in „Don’t Panic“. Nun singen sie: „Said I’m gonna buy a gun and start a war / if you can tell me something worth fighting for / oh I’m gonna buy this place is what I said / blame it upon a rush of blood to head“. Der eigene Anspruch ist ihnen etwas zu Kopf gestiegen.

Was uns das sagen könnte? Dass Chris Martin bald so aussehen könnte wie Phil Collins? Dass Coldplay mit „A Rush Of Blood To The Head“ möglicherweise doch nicht der ganz große Wurf gelungen ist? Vielleicht. Sicher ist jedenfalls: Ihre Unschuld haben sie verloren.

HARALD PETERS

Coldplay: „A Rush Of Blood To The Head“ (Parlophone/EMI)