Bilder in kurzlebigen Flammen

Der klirrende Klang der Kälte: Die Berliner Festwochen werden heute mit einer konzertanten Aufführung der Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann eröffnet – fernab harmloser Poetisierung

Der Auftritt Gudrun Ensslins verleiht der Oper eine entscheidende Wendung

Natürlich ist es zunächst einmal eine todtraurige Geschichte, bei der noch die Tapfersten den Mut verlieren: Das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern, das in einer Silvesternacht auf offener Straße erfriert, das sich vergeblich an seinen Zündhölzern wärmt, während es in den kurzlebigen Flammen Bilder einer reich gedeckten Welt erblickt.

Mit seinem Geständnis, er hasse den Messias und den Hanswurst, aber er liebe den Don Quichote und er glaube an das Mädchen mit den Schwefelhölzern, avancierte Helmut Lachenmann zu einem der sympathischsten unter den lebenden Komponisten. Die Ankündigung, er werde diesem Mädchen eine Oper zu widmen, ließ hingegen bangen. Denn etwas anderes als eine Märchenoper mit fettem sozialkitschigen Anstrich konnte man sich angesichts des erkorenen Stoffes kaum vorstellen.

Aber Lachenmann ist kein Komponist, der sein Publikum zu Tränen rührt. Und es ist „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1990/96) dann auch alles andere als ein Schinken geworden. Zwei Stunden lang verwandelt er Kälte in bibbernden und klirrenden Klang – mit den so ausgefeilten wie unwahrscheinlichen Spieltechniken der von ihm entwickelten Musique concrète instrumentale. Noch der Text zersplittert unter dem Eis zu schlotterndem Stottern. Ein ziemlich sperriger musikalischer Stoff natürlich, der gleichwohl vor einigen Jahren an der Hamburger Staatsoper etwa ein erschüttert-begeistertes Publikum fand.

Lachenmann zeigt sich fest entschlossen, Andersens Märchen „vor harmlos-unverbindlicher Poetisierung“ zu bewahren. Nicht dass Armut kein ernst zu nehmendes Problem ist. Aber das erfrierende Mädchen fällt immerhin eine Entscheidung, nämlich um keinen Preis unter den gegebenen Bedingungen fortzuleben. Lachenmann entwirft ein Mädchen, das vor Verlangen brennt und vor Unwissenheit zittert. Es ist – so der Komponist – der „zur Märchenfigur geronnenen Archetyp des Ausgegrenzten, des beim Sich-selbst-Helfen Zugrundegehenden“.

Zweimal ruft Lachenmann im Laufe seiner Oper reale Figuren auf, deren Schicksal dasjenige des Mädchens als ein ent- und nicht beschlossenes verständlich werden lassen. Einer dieser Auftritte gilt Leonardo da Vinci, den vor dem Eingang einer Höhle zwei Gefühle befallen: „Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.“

Der Auftritt einer weiteren Figur verleiht der Oper eine entscheidende Wendung. Indem Lachenmann Gudrun Ensslin als „eine extrem verformte Variante“ des Mädchens erscheinen lässt, befreit er die Geschichte noch vom letzten Verdacht romantischer Verklärung. Pfarrerssohn Lachenmann, der mit Pfarrerstochter Ensslin aufgewachsen ist, weigert sich, in Ensslin „nur die entfesselte Gewaltbereitschaft und seelische Kaputtheit“ zu sehen, sondern erkennt „ihre Liebe zum an der Gesellschaft zerbrechenden Individuum“.

Der Auftritt Ensslins wird, wie alles in dieser Oper, bloß angedeutet. Mal ertönt ein lapidares „alle Macht dem Volk und so weiter“, dort ein insistierendes „Aktionen sind Lektionen“. Aber an einem Ensslin-Porträt ist Lachenmann so wenig interessiert wie an einer RAF-Oper. Die latente Identität, die zwischen dem Mädchen und Gudrun Ensslin besteht, hilft vielmehr, das Mädchen von Mitleid zu befreien und ihre im Schwefelholz entfachten Visionen als eine mögliche Utopie ernst zu nehmen.

BJÖRN GOTTSTEIN

Sonntag, Philharmonie, 20 Uhr