DIE DRAMATISCHE SCHIEFLAGE DES GESUNDHEITSWESENS WIRD TABUISIERT
: Die Minister wechseln, die Krise bleibt

Es gibt nur noch wenige politische Tabus in diesem Land. Eines ist der marode Zustand unseres Gesundheitswesens. Das Schlagwort von der „Zweiklassenmedizin“ macht zwar immer mal wieder die Runde. Doch damit sind meist nur die unterschiedlich langen Wartezeiten von Privat- und Kassenpatienten beim Arzt gemeint oder die Größe und Ausstattung der Krankenhauszimmer.

So ärgerlich diese Missstände im Einzelfall sind – unser Gesundheitswesen ist längst von einer weitaus dramatischeren Schieflage bedroht. Hierzulande bestehen erhebliche Defizite in der Behandlung von chronisch Kranken und Schmerzpatienten, medizinische Leistungen werden rationiert und wichtige pflegerische und ärztliche Tätigkeiten eingespart.

Die gesetzlichen Krankenkassen sind tief im Minus. Mehr als zwei Milliarden Euro Defizit für das erste Halbjahr wird Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) heute verkünden müssen. Nach den privaten Versicherern scheint die Beitragserhöhung jetzt auch bei den gesetzlichen Kassen unausweichlich. Ulla Schmidt hat, seit sie im Januar 2001 den Posten von Andrea Fischer übernahm, eine unglückliche Figur gemacht. Die Gesundheitsminister wechseln, die Misere bleibt. Kein politischer Krisenmanager scheint seiner verunsicherten Klientel reinen Wein einschenken zu wollen. Dabei ist absehbar, dass das von der Solidargemeinschaft finanzierte Gesundheitswesen sich in vielen wichtigen Bereichen längst vom Solidarprinzip verabschiedet hat.

Inzwischen schlägt auch die Ärzteschaft Alarm und warnt vor einer Unterversorgung. Schon heute stehen viele Praxen vor dem Ruin, geht der einst hoch angesehenen medizinischen Profession der Nachwuchs aus. Unter betriebswirtschaftlichen Engpässen und inakzeptablen Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern leiden zuerst die Kranken. Und die neuen „Chroniker“-Programme mit festen Pauschalen für bestimmte Krankheitsbilder leisten der weiteren Ökonomisierung der Medizin Vorschub. Eine individuelle Medizin, die den einzelnen Patienten in den Mittelpunkt stellt und nach seinen Bedürfnissen fragt, wird damit nicht gefördert.

In den Wahlkampfauftritten der Politiker und im TV-Duell zwischen Kanzler und Kandidat wurde die Gesundheitspolitik bisher kaum erwähnt. Alle Welt redet von der Bildungskrise und der Arbeitslosigkeit. Dabei ist das Gesundheitswesen schon lange krank. Es handelt sich eher um ein chronisches Leiden, von dem niemand behaupten kann, es hätte sich nicht angekündigt.

WERNER BARTENS

Der Autor ist Arzt und Redakteur der Badischen Zeitung