berliner szene In der Straßenbahn

Blut und Sühne

In der Straßenbahnlinie 20 fährt oft ein Mann mit, der auf reichlich eindrückliche Art und Weise die Mitfahrenden um Geld angeht. Seine Haare sind sehr lang, ebenso der Bart. Meist ist er leicht bekleidet, Oberkörper frei, die Beine nur spärlich durch einen Minirock bedeckt. Schuhe trägt er nicht.

Aufgeregt drängelt er sich in die Bahn und murmelt dabei vor sich hin. Es geht um Geld für das nächtliche Quartier: „Drei Euro dreißig.“ Nach einem kurzen Blick in die Runde korrigiert er seine Forderung nach unten: „Zwanzig Cent.“ Trotzdem bleibt die Spende aus. Der Mann wird zusehends unruhiger. Er streift durch die Bahn und brüllt einzelnen Fahrgästen ins Gesicht: „Zwanzig Cent!“ Eine ältere Frau mit Handtasche fixiert angestrengt einen Punkt in weiter Ferne. Ein Bauarbeiter mustert den Mann erst abfällig von Kopf bis Fuß, bevor er sich eingehend mit den vorbeifahrenden Autos beschäftigt. Der Mann beginnt, leise und unverständlich zu fluchen. Plötzlich schlägt er sich mit einem scharfkantigen Gegenstand, der in seiner Faust verborgen ist, die Stirn blutig. Er schreit: „Soll ich erst einen umbringen?“ Der Mann wiederholt diesen Satz wie ein Mantra. Die Menschen in der Straßenbahn wirken verängstigt. Hastig gibt ihm ein Jugendlicher das Geld. Hasstiraden folgen. Frauen würden ihm nie was geben. Besonders dicke Frauen nicht: „Die fressen ihr Geld auf!“

Anschließend setzt er sich ruhig auf einen freien Platz. Das Blut läuft über seine Stirn. Er sieht aus wie Jesus mit dem Dornenkranz. Die Stille kommt plötzlich und unerwartet. Ungläubig starren ihn die Fahrgäste an. So sind sie nun dem Tod entronnen. An der nächsten Station verlässt der Mann die Bahn.

KIRSTEN JENTZSCH