Ein Lob des Vulgären

Der Westen lebt in kommerziellem Überfluss und im Luxus flottierender Identität. Gerade hierdurch wird seine geschmähte „Junk“-Kultur für autoritäre Regime zur Gefahr

von CHARLES PAUL FREUND

Wer erinnert sich nicht an die Bilder aus Afghanistan nach dem Sturz der Taliban, als die Straßen voll bärtiger Männer waren? Als eine Stadt nach der anderen von den Talibansoldaten aufgegeben wurde, reihten sich viele glückliche Männer in lange Schlangen ein, um sich zum ersten Mal seit Jahren legal rasieren zu lassen.

Nur ein paar Monate zuvor, im Januar 2001, waren Dutzende von Barbieren in der Hauptstadt Kabul von der „Haar und Bart“-Polizei der Taliban, dem Ministerium zur Förderung der Tugend und der Abwehr des Lasters, zusammengetrieben worden, weil sie Kunden eine „Titanic“-Frisur geschnitten hatten. Unter dem Zwangssystem der Taliban waren Filme illegal, war Leonardo DiCaprio illegal – und seine Frisur, die es zulässt, dass während des Gebets Haarsträhnen ins Gesicht fallen, geradezu ein Fahrschein ins Gefängnis. Dank wagemutiger Schmuggler wussten zumindest die in den Städten lebenden Afghanen sehr genau, wer DiCaprio war und wie er aussah. Junge Männer übernahmen seinen Stil, Paare feierten ihre Hochzeit mit Kuchen, die die „Titanic“ als Vorlage nahmen.

Als die Gesetze der Taliban mit den Bärten weggefegt wurden, war DiCaprio aus der Mode, auch in Kabul. Die Freiheit wurde jetzt daran gemessen, wie glatt rasiert das Kinn war. Rasiert zu sein war wie „frei sein“. Ein Teil der afghanischen Frauen legte die Burka ab und schminkte sich wieder. In den afghanischen Schaufenstern sah man plötzlich Pin-ups von fröhlich grinsenden indischen Schauspielerinnen. Als ein Kabuler Kino öffnete, um die einzige im Land verbliebene Kopie eines Bollywoodfilms zu zeigen, kam es zu einem solchen Andrang, dass Soldaten einschreiten mussten. Plötzlich gab es Videoläden mit Kost wie „Gladiator“, „Police Story“ und „Independence Day“. Kurz: Der erste Hauch Freiheit, den die Afghanen seit 1995 genießen konnten, war geprägt von kommerziellen Waren der Populärkultur. Die Leute schienen sich zu freuen, wieder anschauen und anhören zu können, was sie wollten; auszusehen, wie sie wollten; wieder etwas Spaß haben zu dürfen.

„Wie deprimierend es war, die afghanischen Bürger zu sehen, die das Ende der Tyrannei feierten, indem sie Unterhaltungselektronik kauften“, kommentierte Pulitzerpreisträgerin Anna Quindlen in einer im Dezember erschienenen Newsweek-Kolumne. Die Freiheit kommt über ein Land, und das Einzige, was seine Bewohner tun, ist einkaufen gehen – wie vulgär!

Eine Weltsicht mit Tradition. Schon die Aristokraten des achtzehnten Jahrhunderts waren angewidert, als die ersten professionellen Schriftsteller auftauchten. Für Geld schreiben, dachten sie, sei der Ruin des Briefeschreibens. Norman Mailer war entsetzt, als der Astronaut Alan B. Shepard 1971 auf dem Mond spazieren ging, plötzlich einen Golfschläger hervorholte und einen flachen Ball schlug. Die Menschheit hätte demütig auf den Knien rutschen sollen, als sie in die Kathredale das Universums eintrat; stattdessen schlug sie Golfbälle durch die Fenster.

Warum verdammen Autoren wie Quindlen die Art und Weise, wie Afghanistan seine Befreiung feierte? Weil sie meinen, dass die Konsumkultur – ob nun rudimentär wie in Kabul zu sehen oder voll erblüht wie im hedonistischen Westen – die Schlange im Garten der Freiheit ist. Wenn sich Kultur und Kommerz treffen, glauben sie, werden sowohl die Demokratie als auch der Wohlstand ausgehöhlt. Die wahre Kultur hat keine Chance.

Als Hillary Clinton, damals noch First Lady, vor einigen Jahren auf dem Wirtschaftsforum in Davos eine Rede hielt, führte sie aus, es gebe „keinen Zweifel, dass wir eine konsumgetriebene Kultur schaffen, die Werte und ethische Normen fördert, die sowohl den Kapitalismus als auch die Demokratie untergraben. Man kann behaupten, dass die besondere Arbeitsethik, das Hinausschieben von Belohnungen und andere Merkmale, die man historisch mit dem Kapitalismus assoziiert, durch den Konsumkapitalismus untergraben werden.“

Ihre Botschaft bezog Hillary Clinton geradewegs aus Daniel Bells klassischer Studie aus dem Jahre 1974, „Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“. Der Kapitalismus, so Bell, gründe auf einer Ethik von Arbeit und Pflicht, führe aber zu einer auf den Einzelnen bezogenen Vergnügungskultur, die die notwendige Einstellung, sich diszipliniert Ziele zu setzen, zunichte mache.

Als die kulturelle Dunkelheit über die Afghanen kam, veröffentlichte Benjamin R. Barber, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Maryland, ein Buch mit dem Titel „Jihad versus McWorld“ (1996; auf Deutsch 2001 im Scherz Verlag, München). Er führte aus, dass der traditionsgebundene, oft auf Blutsverwandtschaft gegründete Antimodernismus eine der zwei stärksten Kräfte in der Welt sei, die die wahre Demokratie unterminieren. Und die andere schurkische Macht? Der „ungezügelte Kapitalismus“, besonders die aggressiven, Ressourcen und Seelen zerstörenden multinationalen Konzerne („McWorld“). Beider Zusammentreffen, argumentierte Barber, werde das edle Gemeinschaftsideal der Zivilgesellschaft zu Fall bringen.

Während die Gruppe um Bell den Kapitalismus durch seine eigene minderwertige Kultur bedroht wähnt, meint Barber, ein zwangsläufig im Wert geminderter Kapitalismus gefährde nicht nur die Demokratie, sondern die gesamte Kultur. „McWorld“, schreibt Barber, „ist ein Produkt der Populärkultur, angetrieben durch eine expansionistische Wirtschaft. Die Schablone ist amerikanisch, die Form ein einheitlicher Stil. Ihre Waren sind so bildhaft wie materiell, sie stellen Ästhetik wie ein Sortiment dar. Es geht um Kultur als Ware, Bekleidung als Ideologie.“ Es geht also um das Aufzwingen einer amerikanisierten, kommerziellen Bedeutung des Alltagslebens, das die Heiligen Krieger, die den Lebenssinn aus dem Transzendenten ziehen, zwingt, sich mit allen Mitteln dagegen zu stemmen.

Fasst man beide Theoriemodelle zusammen, lässt sich eine Schlussfolgerung nicht von der Hand weisen: Das kapitalistische System ist vom Untergang bedroht, dem Selbstmord nahe! Diese Kritiken setzen Demokratie, Kapitalismus und Kultur zueinander in Opposition: Wahre Demokratie kann nicht überleben, weil sie von einer kapitalistischen „Kultur“ erdrosselt wird, die von Geld und Macht angetrieben wird; wahre Kultur kann nicht überleben, weil sie von einer durch den Kapitalismus geschaffenen Populärkultur zerstört wird; und der entfesselte kapitalistische Wohlstand kann nicht überleben, weil er von egoistischen antidemokratischen Kräften untergraben wird. Mit anderen Worten: Welchen Weg man auch immer nimmt, er führt ins Verderben. Und die Afghanen sind trotz oder genauer wegen der landesweiten Rasuren auf dem besten Weg in die Hölle! Die Rettung, so Barber, sei der gute Geschmack. Seltsam genug, er meint seinen eigenen guten Geschmack.

Jihad versus McWorld“ fand bei seinem ersten Erscheinen wenig Resonanz, nach dem 11. September dafür umso mehr. Obwohl es in dem Buch nur am Rande um den Islam geht, war Barbers Weltanalyse plötzlich sehr gefragt. Vor allem, forderte er, sollten wir aufhören, die Welt mit den groben Produkten unserer Kulturmaschinerie zu verunreinigen, unserem „Junk“, unserem Müll. „Ich meine, dass wir überhaupt nicht das Beste unserer Kultur exportieren“, verriet er im November der Washington Post. Das Beste sei „bestimmt durch ernste Musik, durch Jazz, durch Gedichte, durch außergewöhnliche Musik, unsere Theaterstücke – doch wir liefern das Schlimmste, das Kindischste, das Unterste, das Trivialste unserer Kultur.“

Was aber, wenn diese Wegwerfprodukte doch eine Bedeutung haben? Zufällig hat das 20. Jahrhundert eine Reihe von Real-Life-Experimenten mit dieser Thematik durchgeführt. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wurden Kommerz, Kultur und Freiheit voneinander getrennt, während Geschmack gegen Bedeutung kämpfte. Für diejenigen, die während dieser Experimente lebten, waren es Zeiten großen Elends. Einige leben noch in diesem Elend. Aber es sind aufschlussreiche Lektionen, mit denen sich der Westen beschäftigen sollte.

In den Achtzigerjahren sah sich die Sowjetunion in ihren zentralasiatischen Republiken mit einem Islamisierungsschub konfrontiert. Moskau meinte zu wissen, wie man ihn bekämpfen könne, und ließ über den örtlichen Rundfunk westliche Rockmusik ausstrahlen. Das Kalkül: Sinnliche Dekadenz werde die Faszination religiöser Transzendenz untergraben. Wer hat gesagt, dem Kommunismus mangele es an Ironie? Doch der Plan der Sowjets ging nicht auf. Weil man Sinn nicht exportieren kann wie Fliegerabwehrraketen. Das hätten die Sowjets aus ihrer eigenen Geschichte eigentlich wissen können.

1949 waren in den Straßen Moskaus ungewöhnliche Gestalten aufgetaucht und bald danach auch in anderen Großstädten des Ostblocks. Sie trugen Jacken mit riesigen wattierten Schultern und Hosen mit engen Beinen. Sie waren gut rasiert, aber ihr Haar, mit Pomade gebändigt und am Hinterkopf hochgebürstet, ließen sie lang wachsen. Die Männer trugen ungewöhnlich farbenfrohe Krawatten, die sie ein gutes Stück über den Gürtel hängen ließen. Sie gaben sich Namen wie Bob und Joe, kauten Kaugummi und liebten es, amerikanischen Jazz zu hören. Es gab auch einige Frauen in dieser Bewegung, die durch ihre knappen Röcke und exzessiven Lippenstiftgebrauch auffielen.

Diese jungen Menschen wurden „Stilyagi“ genannt, „Stiljäger“. Die Stilyagi brachten es fertig, einen kulturellen Protest gegen den Stalinismus in seiner paranoidesten Periode zu artikulieren. Was unter Stalin verschwunden war, schufen die Stilyagi neu. Stalin versuchte in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, alle Elemente amerikanischer Kultur aus dem sowjetischen Alltag zu eliminieren. Den Jazz, der noch in den Kriegsjahren öffentlich gespielt worden war, betrachtete man nun offiziell als dekadenten, kapitalistischen Schmutz; es war ein Delikt, von Jazz auch nur zu sprechen.

Als Reaktion stülpten die Stilyagi die amerikanische Kultur, wie sie sie verstanden, der stalinistischen über. Das Verblüffendste war ihre kreischende, demonstrativ zur Schau getragene Vulgarität, über die auch die westlichen Eliten das Gesicht verzogen hätten. Die Stilyagi waren Verrückte mit fettigen Haaren, ihr Protest war nicht von der Art verbotener poetischer Texte; er war ein öffentlicher Akt, ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Die Bürger von Moskau überhäuften sie mit Beleidigungen und griffen sie manchmal sogar an. Die kommunistische Presse bezeichnete sie als subversiv und brachte sie mit kriminellen Elementen in Verbindung. Wenn Polizisten sie nicht verhafteten, schoren sie ihnen noch auf der Straße das Haar oder zerrissen ihnen die Kleider.

All dies geschah in der dunkelsten Zeit der stalinistischen Herrschaft. Es gab keine Händler, die die Stilyagi ausbeuten konnten, kein Handelssystem, das in ihnen die Sehnsucht nach falschen Konsumbedürfnissen wecken konnte. Die Stilyagi mussten fast alles selbst herstellen. Sie malten ihre Krawatten einfach an oder schneiderten sie selbst aus irgendeinem ansprechenden Stück Stoff. Sie benutzten Lockenstäbe und frisierten sich gegenseitig. Später erinnerten sie sich, dass sie die ganze Zeit mit Brandwunden im Nacken herumliefen. Nicht einmal Kaugummi gab es, nur einen Ersatz aus paraffiniertem Wachs. Die Krönung ihrer Anstrengungen aber waren ihre Musiksammlungen mit illegal vervielfältigten Aufnahmen auf alten Röntgenplatten.

Viele der besten Musiker des Landes saßen in sibirischen Straflagern. Da die Lager aber häufig von jazzbegeisterten Kommandanten geführt wurden, kam es vor, dass Jazzbands auf deren oft verschwenderischen Partys spielten oder gar zu anderen Kommandanten auf „Tournee“ geschickt wurden. Andere Bands brachte man zur „Rehabilitation“ in entlegene Städte wie das tartarische Kasan. Die Bands machten sich das musikalische Unwissen der örtlichen Behörden zunutze und spielten trotzdem Jazz. In Kasan traten mutige Bands gar im tartarischen Staatsradio auf. Die Stilyagi hörten den tartarischen Rundfunk und erlebten, wie verbannte Musiker die Kulturwächter austricksten.

Stalin starb 1953, und Nikita Chruschtschow initiierte 1956 das so genannte kulturelle Tauwetter. Trotz der Klagen Chruschtschows, Jazz verursache ihm Blähungen, spielten amerikanische Jazzmusiker 1957 auf einem Sowjetfestival. Die Stilyagi in ihren Kostümen fühlten die Widersprüchlichkeit zwischen ihrer Selbstinszenierung und der unterkühlten Musik, die sie aber bereitwillig annahmen. Es war ein bittersüßer Moment: Sie gingen nach Hause, legten ihre grellen Krawatten beiseite, und fingen an, sich gegenseitig Frisuren zu schneiden, wie sie die Bandmitglieder von Gerry Mulligan trugen.

Doch die Probleme für die sowjetischen Behörden fingen erst an. Russische Athleten brachten von den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne, Australien, etwas Neues mit: Rock ’n’ Roll. Auf dem Boden, den die Stilyagi bereitet hatten, wurde der Untergrundrock des Ostblocks bald größer, viel größer, als es die Szene der Stilyagi je gewesen war. Die sowjetischen Behörden verboten den Untergrundrock und bauten staatlich genehme Rockbands auf. Sie beauftragten sogar das Sportministerium, „offizielle“ Rocktänze zu erfinden, die sozialistische Werte verkörpern sollten, und lancierten sie dann ins Staatsfernsehen. Natürlich funktionierte es nicht – keine Methode hätte funktioniert.

Was die Behörden nie verstanden, und was viele Kulturkritiker im Westen ebenfalls nicht verstehen, ist, dass die Fans einer solchen „vulgären“ und verfemten Subkultur nicht ausgebeutet werden. Es sind die Fans, die sowohl die Musikszene wie die dazugehörigen Utensilien für ihre eigenen Zwecke nutzen. Auch wenn es niemanden gibt, der ihnen die Utensilien verkauft: Die Mitglieder dieser Subkulturen werden nicht ohne sie sein wollen. Sie werden sie sich selbst schaffen.

Es gab für das sowjetische System keine Möglichkeit, sich mit dem Phänomen zu arrangieren und gleichzeitig dem autoritären Regierungssystem treu zu bleiben. Am Ende war es nicht der musikalische Untergrund, der seine Legitimation verlor, sondern die sowjetische Staatsgewalt. Die Unfähigkeit des Systems, seinen Bürgern die Konstruktion eigener kultureller Identitäten zu erlauben – ihre „Konsumnachfrage“ zu befriedigen –, war ein Hauptfaktor, der den Kommunismus bei der Bevölkerung unglaubwürdig machte.

Kapitalismuskritiker im Westen greifen die „Kulturindustrie“ an, die reich werde, weil sie so genannte Konsumidioten in aggressiver Weise manipuliere und die Welt mit „Junk“ fülle, wie Benjamin Barber es nennen würde. Schlimmer, sagen die Daniel Bells und Hillary Clintons, sie bedroht den Wohlstand des Westens, weil sie Ichbezogenheit statt Arbeitsethik fördert.

Diese Kritik geht am Wesen der Kommerzkultur vorbei. Menschen, die ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, genießen einen geschichtlich einmaligen Luxus. Sie können experimentieren. Sie können Identitäten schaffen, sie wieder neu gestalten, und einen Großteil ihres Lebens tun sie das. Sie können es auf vielerlei Weise tun, aber eine der wichtigsten Möglichkeiten ist jene, die als „Konsum“ bekannt ist und geschmäht wird. Sie experimentieren mit verschiedenen Arten, sich darzustellen, verschaffen bestimmten Aspekten ihrer Individualität Geltung, schließen sich Subkulturen an und verlassen sie wieder, widersetzen sich Machtzentren oder halten an ihnen fest. Konsum entsteht überall auf der Welt, wenn Menschen Gelegenheit erhalten, den festgelegten Grenzen traditioneller Identitäten entfliehen zu können – ein Schauspiel, das westliche Konsumkritiker deprimiert aufheulen lässt.

Weit davon entfernt, Wohlstand zu mindern, hat sich das Bedürfnis, Identitäten immer wieder neu zu entwerfen, als unwiderstehlich erwiesen, sogar unter Bedingungen, in denen eine Kulturindustrie nicht entstehen konnte. Wenn es sie aber gibt, wird dieses Bedürfnis sofort zu einem Wirtschaftsmotor. Wie John Golby und William Purdue 1984 in ihrer Arbeit über die Ursprünge der populären Kultur im Industriezeitalter feststellten, war ein Schlüsselfaktor der wachsenden positiven Einstellung gegenüber der Arbeit im achtzehnten Jahrhundert weder die Religion noch die Gesetzgebung, sondern es waren „die neuen Möglichkeiten in der Freizeit und im Konsumverhalten“, geschaffen durch steigende Löhne. Die Arbeiter setzten gewissermaßen die Stechuhr nicht in Gang, weil sie dazu gezwungen wurden, sondern weil sie es wollten.

Verlässliche Arbeitszeiten und Löhne gaben ihnen mehr Zeit und Geld, um die groben, vulgären und geringwertigen Gegenstände zu kaufen und zu genießen, mit denen sie ihr Selbstbildnis formten. Mit anderen Worten: Von Beginn an zeigte sich, dass Kultur, Kapitalismus und Demokratie sich gegenseitig befördern. Die Möglichkeit, seine Identität neu erfinden zu können, ist von ihrem Wesen her eine antiautoritäre Angelegenheit, und das zeigt sich nirgends deutlicher als in dem viel geschmähten westlichen Kult des „Coolseins“.

Erfolgreiche Unternehmen versuchen nicht, ihre Kunden zu manipulieren; sie haben längst gelernt, dass sie ihren Produkten keine bestimmte Bedeutung aufzwingen können. Sie geben viel Geld aus, um die flüchtigen Moden erkennen zu können; wohl wissend, dass sie sich in dem Moment ändern, wenn die Öffentlichkeit merkt, dass ein Marketing dahinter steckt. Das Beste, was die Unternehmen tun können, ist, den Kunden zu folgen. Meist haben diese Anstrengungen keinen Erfolg – aus demselben Grund, aus dem sowjetische Teenager „offizielle“ sozialistische Tänze ablehnten: Kultur entsteht aus Sinn, und Sinn entsteht aus dem Selbst.

Der Westen hat sich mit seiner vulgären Kultur nie wohl gefühlt. Diese Furcht ist wohl am stärksten in den Vereinigten Staaten, in denen lange Zeit ein kultureller Minderwertigkeitskomplex gegenüber den etablierteren europäischen Experten der großen Kunst gepflegt wurde. Volkstümliche, kommerzielle Kunstrichtungen sind nicht nachdenklich. Sie sind kurzlebig, laut, heftig, ekstatisch. Weil sie häufig von machtlosen und sogar verachteten Außenseitern geschaffen wurden, erscheinen sie umstürzlerisch.

Vulgäre Erscheinungsformen haben schon oft „Panikattacken“ bei denjenigen ausgelöst, die ihre kulturelle Macht und ihren Status bedroht sahen: die ersten Groschenromane, die ersten Paperbacks, das Melodram, die Boulevardpresse, Walzer, Ragtime, Jazz, das Radio, der Film, der Comic, das Fernsehen, Rap, Computerspiele. All diese Dinge verführten Kritiker, das Ende der Zivilisation zu verkünden und sich über eine gerade neu entdeckte „Abhängigkeit“ Sorgen zu machen, zu verkünden, die kommende Generation werde „desensibilisiert“. Auf diese Weise gewann die Generation, die in den Fünfzigerjahren im Ruf unzivilisierter Straftäter stand, weil sie Elvis liebte, mit Schießeisen herumbastelte, Kaugummis kaute und mit großen Straßenkreuzern herumfuhr, eine reife Ehrbarkeit, und einst als vulgär beschimpfte Gegenstände wurden nostalgisch begehrte Devotionalien, ja Teil des nationalen Kulturerbes. Dieselbe Generation machte sich anschließend Sorgen über die zerstörerischen Auswirkungen von Rap und gewaltverherrlichenden Compterspielen.

An Orten, an denen die moralische Ordnung auch die gesetzliche Ordnung ist, sind ekstatische Tendenzen und unorthodoxe Lebensweisen immer noch Fälle für die Polizei. Im vergangenen Sommer gab es in der zentralasiatischen Republik Kasachstan eine Reihe von Razzien gegen „unkonventionelle“ Lebensweisen. Der Westen erfuhr überrascht, dass eine der verfolgten Zielgruppen „Tolkienisten“ waren – Kasachen, die sich gerne Hobbit-Kostüme anziehen und Szenen aus den Romanen von J. R. R. Tolkien nachspielen.

Hobbit-Darsteller in Kasachstan? Woher bekommen sie die Ausrüstung? Gibt es in Kasachstan Tolkien-Fanzines? Verändern die Fans die Erzählungen von Tolkien, um sie ihren Bedürfnissen anzupassen? Hört der Prozess der Übernahme anderer Identitäten nie auf? Kann es ein Ende geben, wenn der Erfindungsreichtum immer wieder neue Identitäten erschafft, bevor man sie wieder ablegt und von vorn beginnt?

CHARLES PAUL FREUND ist Herausgeber des US-Magazins Reason . Seinen dort erschienenen, für das taz.mag stark gekürzten Beitrag übersetzte ANGELIKA FRIEDL