Grenzgänge mit Velo

Der Mauerradweg verbindet auf einer Länge von 160 Kilometern historische Spurensuche in der City mit dem Naturidyll am Stadtrand

von CHRISTOPH RASCH

Zwanzig wetterfest verpackte Berliner haben sich in einem Hinterhof in Berlin-Mitte versammelt, sie wollen ihre Stadt einmal aus ganz neuer Perspektive entdecken – mit dem Fahrrad entlang am einstigen Verlauf der Berliner Mauer. 160 Kilometer auf heute ziemlich verkehrsreichen Straßen und alten, holprigen Expatrouillenwegen der Grenzsoldaten.

Die Mauer-Radler umringen Michael Cramer, der mit die Idee dazu hatte, den ehemaligen Todesstreifen für die Naherholung zu erschließen – und gleich ein Buch daraus machte. Schon kurz nach der Wende begann er, den Mauerstreifen abzuradeln und zu dokumentieren. Im vergangenen Jahr nun erschien sein Mauer-Radreiseführer, der jetzt in die zweite Auflage geht. Woche für Woche organisiert Cramer Fahrrad-Gruppentouren entlang dem Mauerstreifen. In diesem Jahr radelten mehr als 1.000 Berliner und Touristen mit.

Mit routinierter Polit-Rhetorik eröffnet der verkehrspolitische Sprecher der Berliner Grünen die erste Etappe: „Die Bedeutung des Fahrrad-Tourismus ist in Berlin bislang verschlafen worden“, sagt er. Und dann – quasi um diesen Missstand aktiv zu widerlegen – radelt die Gruppe „ab durch die Mitte“ Berlins: Von der Bernauer Straße bis zum Checkpoint Charlie, vorbei an Wolf Biermanns alter Wohnung in der Chausseestraße, an grenznahen Friedhöfen, die man zu DDR-Zeiten nur mit Sondergenehmigung betreten durfte und an einem der letzten Mauer-Wachtürme in der Nähe der Invalidenstraße. Es folgen Anekdoten von den russischen Eroberern des Reichstags, von gesprengten Kirchen auf dem Grenzgebiet und den heute ungeschützten Mauerresten im Eigentum der Bundesregierung. Bei seinen Zuhörern kommen die historischen Geschichtchen gut an.

Auch das „Verkehrsprojekt Mauerradweg“ selbst hat eine lange Geschichte. Der Mauerstreifen rund ums alte West-Berlin war lange Zeit so etwas wie ein weißer Fleck auf den Karten der Natur- und Fahrradbegeisterten einerseits und der verantwortlichen Stadtplaner andererseits. „Die Mauer muss weg“ war lange die Devise in den Ämtern. Wenige Monate nach dem Mauerfall verzierten Aktivisten des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) den alten DDR-Patrouillenweg auf der Mauerbrache zwischen Potsdamer Platz und Checkpoint Charlie symbolisch mit Fahrradpiktogrammen – zunächst umsonst. „Politisch nicht gewollt“ war er damals, der Radweg rund ums alte West-Berlin, „mit den alten Strukturen und Formen der Stadt nicht vereinbar“. Inzwischen hat sich das gewaltig geändert. Cramers Touren und sein Engagement im Abgeordnetenhaus waren die Pionierarbeit, nun will der Senat den Weg beschildern, die Radwege ausbessern und die anliegenden Mauer-Denkmäler erhalten. Ein Planungsbüro macht derzeit eine Bestandsaufnahme und bis 2004 sollen dann 2,7 Millionen Euro in den Mauerradweg investiert werden. Cramer ist zuversichtlich, dass dieser Zeitplan auch eingehalten wird.

Und schon jetzt ist der Weg entlang der ehemaligen Zonengrenze kein Geheimtipp für Radler mehr. Die fuhren ihn auch in diesem Sommer tausendfach ab, zwischen Mitte und Lichterfelde-Süd, zwischen Wannsee und Spandau und zwischen Hennigsdorf und Mitte. Neben Cramer, der seine Touren in diesem Jahr noch kostenlos anbot, haben inzwischen auch andere Radreise-Anbieter den Weg entdeckt.

Katrin Rosemann (38) aus Pankow meint: „Wenn man in der Gruppe unterwegs ist und bewusst nach Spuren sucht, erlebt man die Stadt ganz anders.“ Auch Michael Cramer geht es vor allem um die „andere“ Sichtweise, um einen anderen Stadttourismus. Für ihn verbindet der Mauerradweg historische Spurensuche in der City – dort markiert eine doppelte Kopfsteinpflasterreihe den Grenzverlauf – mit dem Naturidyll am Stadtrand.