„Und links sehen Sie Ground Zero“

Längst ist das Datum 9/11 zu einer Marke geworden. In Chinatown gibt es Grabsteine mit der Aufschrift 11. September, Feuerwehrhelme und Gasmasken, Modelle des World Trade Centers. Manche funktionieren auch als Feuerzeug

von TOBIAS MOORSTEDT

Eigentlich passt das Schaufenster der St.-Marcs-Galerie nicht ins East Village. Links der Galerie hat vor einer Woche eine Sushibar eröffnet, auf der rechten Seite verkauft ein Secondhandladen Kleidung aus den 70ern. Im New Yorker East Village ist man jung, bunt, kreativ. Doch im Schaufenster der Galerie hängen nur schwarzer Stoff und ein großes Bild. Markus Jefferson ist darauf zu sehen, ein Fotograf der Zeitung Daily News. Vor fast einem Jahr wurde Jefferson beim Einsturz des World Trade Centers schwer verletzt. Ein Kollege hat ihn fotografiert. Wie versteinert liegt Jefferson inmitten der Trümmer, Staub bedeckt den Körper, die Arme hat er abwehrend von sich gestreckt, Augen und Mund sind weit geöffnet. Er hat das Grauen gesehen.

Mehr als 2.000 Fotos vom 11. September hat die St.-Marcs-Galerie gesammelt. Es sind Aufnahmen von Profis und von Privatleuten. Manchmal verschwommen. Manchmal viel zu scharf. Die Galerie ist ein gutes Beispiel dafür, wie man auch ein Jahr nach den Anschlägen des 11. September in New York immer wieder auf Spuren der Katastrophe trifft. Oft ganz unerwartet. Sicher, die Trümmer sind aufgeräumt, das Leben geht weiter. Die New Yorker sind wieder schnell, unhöflich und hart. Doch dann geht man um eine Ecke, und steht plötzlich vor einem der Feuerwehrhäuser der Stadt, man sieht die Blumen und die Bilder der toten Männer. Die amerikanischen Flaggen und die Kinderzeichnungen. Und die Erinnerung kommt zurück.

Mehr als 100 Ausstellungen beschäftigen sich in New York zurzeit mit dem Datum 9/11. Im New York State Museum zum Beispiel werden Fundstücke aus den Trümmern der Türme gezeigt. Stücke eines Flugzeugrumpfes, die Hälfte eines Telefonhörers, drei Computerdisketten, zu einem Ball verschmolzen. Aus den Trümmern gesucht, hinter Glasscheiben führen diese und andere Alltagsgegenstände nun ein zweites Leben als Beweisstücke der Geschichte. „Es geht eine große Kraft von diesen kleinen Artefakten aus“, sagt Mark Schaming, der Direktor des Museums.

Im Hauptbahnhof der Stadt, in der prachtvollen Halle der Grand Central Station, beschäftigt sich eine Ausstellung mit einem anderen Aspekt der Katastrophe. „New York von oben. Momente der Kontemplation“ – so ist die Bilderschau überschrieben. Denn längst ist es an der Zeit zu fragen, ob New York am 11. September außer 3.000 Seelen und ein paar Millionen Quadratmetern Bürofläche nicht auch eine Perspektive auf sich selbst verloren hat. Die aus der Höhe. Mit den Aussichtsplattformen auf der Spitze der Wolkenkratzer verschwand eine Möglichkeit, der Stadt zu entkommen, ohne sie zu verlassen.

32,3 Millionen Touristen werden New York voraussichtlich im Jahr 2002 besuchen. Die Gästezahl liegt noch immer unter dem Wert des Jahres 2000 (37,4 Millionen), doch das Krisenjahr 2001 scheint für die Branche überwunden. „Viele Leute kommen, um zu sehen, wie viel von unserer Stadt noch steht“, erklärt Bob Higgins, Pilot bei der Firma Liberty Helicopters, die neue Faszination der Touristen.

Längst ist das Datum 9/11 zur Marke geworden, zu einem Label, das sich bestens verkaufen lässt. Auf der Ramschmeile der Stadt, der Canal Street in Chinatown, hat sich die Industrie auf die Bedürfnisse der Besucher eingestellt. Da gibt es Grabsteine mit der Aufschrift 11. September. Da liegen Feuerwehrhelme und Gasmasken. Da stehen eine Unmenge von Modellen des World Trade Centers. Manche funktionieren auch als Feuerzeug. Und da gibt es Postkarten mit den Bildern der fallenden Türme.

„Mir fehlt das WTC“, sagt Higgings kurz vor dem Abheben. „Für uns Piloten war es wie die Sonne. Der beste Orientierungspunkt.“ Zusammen mit sieben Besuchern aus Idaho hebt Bob Higgins ab. Wie ein Tonband spricht er: „Zu ihrer Rechten sehen Sie nun Hoboken, den Geburtsort von Frank ‚Ol’ Blue Eyes‘ Sinatra. Und gleich daneben, das ist der Eingang zum Lincoln Tunnel. Ebenfalls weltberühmt. Und, ach ja, zu Ihrer Linken nun, das ist Ground Zero.“ Ground Zero. Schutzlos. Sehr nah. Ein leerer Platz in Downtown New York. Der Mann am linken Fenster macht noch schnell ein Foto von sich und der leeren Stelle. Nächste Station ist die Freiheitsstatue.