Ungehobene Schätze

Das Deutsche Rundfunkarchiv ist das Gedächnis der ARD: Hier werden die dokumentationswürdigen Töne aller Anstalten gesammelt. Doch die meisten Sender nutzen ihre eigene Stiftung kaum

Mittelfristig wird das Rundfunkarchiv keine große Berechtigung mehr haben“

von MARCUS WEBER

„Ein großer Schritt für die Menschheit“, sagt Walter Roller und steht von seinem Stuhl auf. „Völker der Welt.“ Er läuft um den Schreibtisch: „Der totale Krieg.“ Solche Originaltöne bestellen Redakteure der ARD-Rundfunkanstalten oft bei ihm. Andere liegen ungenutzt im Keller des Deutschen Rundfunkarchivs.

Der Dokumentar zieht ein Buch aus dem Regal. Darin hat er alle in Deutschland vorhandenen Wortaufnahmen zwischen 1888 und 1932 verzeichnet. Nun ist bald Schluss damit: Die Reihe, zu der dieses Buch gehört, wird eingestellt, sagt Roller: „Die Zukunft, ja, die kann man pessimistisch sehen. Mittelfristig wird das Rundfunkarchiv keine große Berechtigung mehr haben.“

Es klingt unglaublich. Erst vor zwei Jahren weihte das Deutsche Rundfunkarchiv in Potsdam-Babelsberg ein neues Gebäude ein, in dem nun der komplette Nachlass des DDR-Rundfunks lagert – 130.000 Filmbüchsen, 450.000 Tonbänder. Und auch im Mutterhaus in Frankfurt am Main werden Radiotöne aufbewahrt, die es sonst nirgendwo in Deutschland gibt: Aufnahmen, die zwischen den Jahren 1888 und 1945 entstanden. Dieses Jahr zahlen die ARD-Anstalten ihrer Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv 12 Millionen Euro. In Frankfurt und Potsdam sind zurzeit 120 Mitarbeiter beschäftigt.

Zwei Zimmer weiter sitzt Clemens Schlenkrich, Rollers Vorgesetzter, und muss da einiges zurechtrücken. „Wir werden uns sicher einschränken müssen. Aber wir werden unsere Existenzberechtigung haben.“ Schließlich fungiere das Deutsche Rundfunkarchiv als „historisches Archiv für die ARD, als wirkliches Gedächtnis, zur Bewahrung von Kulturgut im weitesten Sinne. Schlenkrich weist darauf hin, dass das Deutsche Rundfunkarchiv mit seinen Beständen offensiv nach außen geht: mit den „Hinweisdiensten Wort und Musik“, mit denen die Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Sender über anstehende Gedenktage und Jubiläen informiert werden – immer mit dem Hinweis, welche Töne zum jeweiligen Ereignis existieren. So ruft sich das Rundfunkarchiv alle drei Monate ins Gedächtnis der ARD-Redaktionen.

Und so passiert es, dass bei Walter Roller etwa zehnmal am Tag das Telefon klingelt. Dann nimmt Roller ab und sagt: „Eisenhower? Davon kann ich Ihnen eine Liste schicken.“ Deutschlandfunk und Deutschlandradio fordern natürlich relativ häufig Töne aus dem Archiv. „Aber schauen Sie sich mal die Kulturprogramme der ARD-Radioanstalten an; bei Radio Bremen oder beim Saarländischen Rundfunk: Da wird gekürzt und gestrichen. Und das wären ja unsere Kunden.“

Clemens Schlenkrich muss zugeben: Das Formatradio macht ihnen das Leben nicht leichter. Aber das Weitergeben von Tönen ist ja nicht die einzige Aufgabe des Rundfunkarchivs. Die ARD-Anstalten melden dem Archiv alle Sendungen, die sie für „besonders dokumentationswürdig“ halten, und die Sendedaten werden dann im Rundfunkarchiv katalogisiert. Schon jetzt können Redakteure per Computer selbst die Datenbanken durchstöbern und digitalisierte Sendungen anhören. Und immerhin hat das Rundfunkarchiv noch einen Trumpf: die zentrale Schallplattenkatalogisierung. Jedes Jahr werden dort die Daten von 16.000 CDs gespeichert. Alles, was auf dem deutschen Markt erscheint, und ein paar aus dem Ausland noch dazu. Auch diese Daten werden den ARD-Anstalten zur Verfügung gestellt – so muss sich nicht jeder Sender einzeln um die Sache kümmern. Eigentlich könnte das generell so funktionieren: Nicht jede ARD-Anstalt müsste dann wie bisher ein eigenes Archiv unterhalten, stattdessen könnte das Deutsche Rundfunkarchiv für alle archivieren – alles wäre zentral und von überall digital abrufbar. „Aber das will ja keiner“, sagt Roller und kneift die Augen zusammen, er sucht etwas. „Da ist es: ‚Berliner Rede: Chance, nicht Schicksal‘, von Johannes Rau. Wir haben diese Rede aufgenommen, weil sie keine andere Rundfunkanstalt in voller Länge hat.“ Aber später könnte sie gebraucht werden. Und deshalb werden bestimme aktuelle Ereignisse direkt im Rundfunkarchiv mitgeschnitten: von Phoenix – oder CNN. Aber das Medium Radio hat seine Bedeutung, die Töne haben ihre Bedeutung verloren, sagt Roller und meint es wirklich so pessimistisch.

„Dagegen kann niemand etwas machen, da nützt auch keine Umstrukturierung.“ Das kann auf Dauer nicht gut gehen für das Deutsche Rundfunkarchiv: Nicht einmal die Wissenschaft nimmt ihre Töne richtig ernst: „Da gibt es zum Beispiel diese Hitler-Rede“, sagt Roller, „in der Hitler sagte, falls das deutsche Volk seinen Kampf verlieren würde, ginge es mit Recht unter.“ Aber in wissenschaftlichen Büchern lese man, dass diese Rede unbedeutend war. Denn die Wissenschaftler haben sich einzig an den schriftlichen Quellen orientiert. Und die schriftlichen Quellen, die Zeitungen, druckten damals wie so oft eine entschärfte Variante. Das ärgert Walter Roller, dass dann niemand daran denkt, dass diese Rede noch im Original existiert. Dass es ein Deutsches Rundfunkarchiv überhaupt gibt.

Noch bis zum 13. 9. ist am DRA-Standort Potsdam-Babelsberg die Ausstellung „re:play – 50 Jahre Deutsches Rundfunkarchiv“ zu sehen. Info: www.dra.de