Wahr ist, was schief geht

Wahlkämpfe sind weniger verlogen als ihr Ruf. Dafür sorgen schon die Politiker, die mit ihren Patzern die Inszenierungen der Strategen vermasseln

Ein Wahlkampf ohne jede Panne wirkt nicht nur verlogen, er geht auch verloren

aus Marl PATRIK SCHWARZ

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Norbert Lammert staunte nicht schlecht. Die Maria-Sibylla-Merian-Gesamtschule in seinem Heimatwahlkreis Bochum hat den Politiker für kommenden Montag auf ein Podium geladen. „Für die Diskussionsrunden bitten wir schon jetzt um die Einhaltung von Gesprächsregeln“, wurde der Vorsitzende der mächtigen NRW-Landesgruppe im Einladungsschreiben belehrt. Er habe „90 Sekunden Zeit, auf eine Frage zu antworten, nach einem Durchgang stehen jedem Politiker weitere 60 Sekunden zur Verfügung“. Noch ehe sich morgen die Kanzlerkandidaten zum abschließenden „TV-Duell“ gegenübertreten, haben die Regeln des Fernsehens bereits bis in den letzten Winkel der Republik die Auseinandersetzung verändert.

Spätestens seit das Duell das politische Mobiliar der Bundesrepublik erweiterte, gilt der Wahlkampf 2002 als Höhepunkt eines Trends, der Inszenierung über Inhalte stellt. Politologen wie Medienwissenschaftler verfolgen die Entwicklung mit berufsbedingter Sorgenmiene, so zuletzt auf den Marler Tagen der Medienkultur des renommierten Adolf-Grimme-Instituts.

Schon der Tagungstitel „TV-Duelle, Spin-Doktoren und Guidomobil“ verriet das diffuse Unbehagen der Medienwächter. Doch die Sorge, dass Schein über Sein siegt, ist unbegründet. Das garantieren schon die Politiker, die mit ihren Patzern noch jede Inszenierung der Parteistrategen vermasselt haben – und damit dem Wahlkampf eine ungewollte Wahrhaftigkeit verleihen.

Trickreich verwischen die Wahlkampfmanager die Grenze zwischen Absicht und Täuschung. Waren Möllemanns Ausfälle gegen Friedman antisemitischem Kalkül oder überschießendem Adrenalin geschuldet? Mit letzter Sicherheit vermag das wohl nicht mal der FDP-Rambo selbst zu unterscheiden.

Misstrauen ist auch angebracht gegenüber den allzu willigen Angeboten der postmodernen Wahlkämpfer, ihre Ziele, Strategien und Methoden offen zu legen. „Der Blick hinter die Kulissen gehört längst zum Wahlkampf“, hat der Filmemacher Stefan Lamby erlebt, der für den Sender Phoenix an einem Projekt zur theatralischen Inszenierung des Politischen arbeitet. Der Blick hinter die Kulissen ist nicht mehr investigatives Werkzeug des Journalisten, sondern inszenatorisches Instrument der Werbefachleute. Seit die Arbeitsweise der SPD-Kampa 1998 ein Dauerrenner der Wahlkampfberichterstattung war, gilt es unter deutschen Parteimanagern als letzter Schrei, Medien und Wahlvolk beim Inszenieren der Inszenierung zuschauen zu lassen.

Die Entstehung von Gedanken beim Denken mit zu reflektieren galt unlängst noch als höchste Kunst der Postmoderne. Im Jahrhundert der Spin-Doctors ist diese Weisheit Allgemeingut. 49 Prozent der öffentlichen Berichterstattung über Wahlkämpfe besteht inzwischen aus Beiträgen über die verschiedenen Formen von Kampagnen und deren Macher, hat eine Studie für die Zeitschrift PR Report herausgefunden. Die Inhalte wurden mit knapp 40 Prozent klar auf den zweiten Platz verdrängt. Das ist in etwa so, als hätte „Star Wars“ weniger Zuschauer als die Werbedoku „The Making of Star Wars“.

Als Folge kennen inzwischen vermutlich mehr Deutsche den Wahlkampfmanager Michael Spreng als die Bildungsministerin Edelgard Bulmahn. Edmund Stoibers PR-Stratege darf sich daher im ARD-Porträt „Die Kanzlermacher“ zu Recht rühmen, sich besser zu vermarkten als Kampa-Chef Matthias Machnig. Sein Chef Stoiber wiederum ist klug genug, zu akzeptieren, dass Sprengs Eigenlob der Lorbeer ist, aus dem sein eigener Siegeskranz geflochten wird. Die Medien verfolgen fasziniert, wie sie von Showmastern zu Oberbeleuchtern degradiert werden. Irgendwie ahnen die Journalisten, dass sie eifrig daran mitwirken, beschissen zu werden, doch finden sie im Labyrinth der Kulissen den Notausgang nicht.

Wo bleiben also die Inhalte? Der Wunsch, aus den Duellanten mehr Substanz herauszuholen, ist ziellos: Es steckt in ihnen nicht mehr drin. Dasselbe gilt für den Wahlkampf als Ganzes. Wirbt die SPD nicht, wie sie regiert? Nur wer vom Wahlkampf erwartet, dass er besser ist als die Politik (und die Politik besser als das Volk), kann sich beklagen. Wenn die Wähler Schröder verzeihen, wie er regiert, warum sollten sie ihm nicht verzeihen, wie er Wahlkampf betreibt?

„Ohne attraktives inhaltliches Angebot und ohne Meinungsführerschaft keine maximale Mobilisierung des eigenen Potenzials“, warnte schon im Frühsommer dieses Jahres der Leiter der legendären „Willy wählen“-Kampagne von 1972, Albrecht Müller. Doch der Kandidat Schröder war im Wahlkampf so sprunghaft, chaotisch und bar jeder Leitlinie, wie er vier Jahre regiert hatte. Das Drehbuch des Herrn Machnig verpatzte er bereits, als er Monate zu früh die geplante Schlusspointe „Der oder ich“ hinausposaunte. Die behelfsweise hinterhergeschobene „programmatische Initiative“ erschöpfte sich im wiederholten Gebrauch der Vokabel „Solidarität“. Der halbgaren Idee vom „deutschen Weg“ war keine längere Halbwertszeit beschieden, Schröder verwendet sie nur noch auf Nachfrage.

Auch mit den Grünen sprang der Wahlkämpfer Schröder so willkürlich um wie zuvor der Kanzler: Am Anfang gab es ein gemeinsames Anzeigenmotiv mit Joschka Fischer, dann war monatelang Funkstille. Nach der Flut räuberte er den grünen Themenfundus, jetzt wird für den Sonntag vor der Wahl noch rasch eine gemeinsame Kundgebung mit Fischer drangepappt.

Beim Inszenieren der Inszenierung darf das Wahlvolk gerne zuschauen

Institutsleiter Bernd Gäbler rügte in Marl: „Weil die rot-grüne Regierung keinen Begriff davon entwickelt hat, was das Wesentliche ihres Tuns war, kann sie ihn auch nicht vermitteln.“ Trotzdem, und darin liegt das Paradox, steht die Regierung in den Umfragen besser da als je seit Beginn der Kampagne. Man kann sagen, die Flut und der Irak haben Schröder geholfen. Zutreffender ist, dass eine ohnehin chaotische Kampagne besser auf das Unvorhergesehene reagieren kann. Es ist das Wunder des rot-grünen Wahlkampfs: Obwohl so ziemlich alles schief lief, lief es gut.

Nur ein Branchenblatt für Spin-Doctors wie politik&kommunikation kann noch die Illusion verteidigen, der Plan bestimme die Politik. „Eine erfolgreiche Wahlkampagne setzt voraus, dass Programm, Kandidat und Kampagne übereinstimmen“, verkünden dort treuherzig die Lehrer der „Parteischule beim SPD-Parteivorstand“, Jessica Wischmeier und Klaus Reiners. Tatsächlich ist das Leben in Schröders Wahlkampf zurückgekehrt, weil die Praxis der Theorie nicht gehorchte. Man könnte daraus zwei Gesetze ableiten: Erstens, wirksam ist, was wahr ist. Zweitens, wahr ist, was schief geht. Womöglich schätzen die Wähler Echtheit mehr als Perfektion. Ein Wahlkampf ohne Pannen ist dann nicht nur ein verlogener, er ist auch ein verlorener Wahlkampf. Es müssen nur die richtigen Pannen sein.

Mit all ihren Widersprüchen bot die permanente Schröder-Improvisation den Wählern die Chance zur Anteilnahme. Die Stoiber-Kampagne ist das beste Beispiel für Perfektion bis zur Langeweile. Kein gravierender Fehler pflasterte den Weg des Kandidaten, sogar Erzkonkurrentin Merkel hat eisern geschwiegen, und was bleibt? Kein Mensch in der U-Bahn und in den Friseursalons der Nation spricht über „Zeit für Taten“ oder „Gemeinsam für Deutschland“. Die Unions-Slogans verpuffen, vom Kandidaten bleibt nur die ferne Erinnerung an einen lustigen Auftritt bei Christiansen. Die Pleite war der eine Moment des echten Stoiber, an den seine Berater hätten anknüpfen müssen. Stattdessen haben sie den kantigen Kandidaten rundgeschliffen.

Die Politiker, kein Zweifel, hassen die Pannen so sehr, wie es ihre Spin-Doctors tun. Harald Schmidt stellte nach dem ersten „TV-Duell“ fest: Mit 15 Millionen Zuschauern sind Stoiber und Schröder das beliebteste Fernsehpärchen seit Kurt Felix und Paola. Gleichzeitig haben sie durchgesetzt, was es in keiner anderen Gameshow gibt: Die Kandidaten bestimmen die Regeln. Im völligen Widerspruch zur martialischen Rhetorik vom Duell haben Stoiber und Schröder sich den Schutzraum zimmern lassen, den sie in der Wahlkampfwirklichkeit so oft entbehren müssen. Das TV-Studio wurde zum Streichelzoo, in dem jede Aggression hinter dem Gitterzaun der Regularien eingehegt ist. So fühlten die Kandidaten sich sicher voreinander. Beim Wähler hätte ihnen der eine oder andere Fehler mehr gebracht.