Pille, Hering, Melodie

„Überraschung mit Rätsel mischen, Zauber mit Schock, Intelligenz mit Hingabe, Form mit Antiform“: Anlässlich seines 100. Geburtstages ehrt das Konzerthaus am Gendarmenmarkt den Komponisten Stefan Wolpe mit einer Konzertreihe

Der Unterricht glich einem Klassenausflug: „Er ließ uns auf der Straße Gegenstände suchen. Wir gingen alle raus mit einem kleinen Koffer und sammelten alles, was wir fanden – von Zigarettenkippen bis zu kleinen Feilen, kleinen Schrauben, Briefschnipseln, Brotkrümeln, toten Vögeln, Federn, Milchflaschen –, winzig kleine Gegenstände, die keinen Nutzen mehr haben. Und diese Gegenstände wurden unsere Freunde. Wir mussten Dinge zusammensetzen – unten eine Spirale, dann ein künstliches Auge, einen Schnürsenkel. Es war ein großes Drama mit diesen Zusammenhängen, weil wir nicht wussten, was ein toter Hering mit einer Aspirinflasche zu hat, als wir beides nebeneinander stellten.“

Die ungewöhnliche Methode zeigte Wirkung. Stefan Wolpe, von Haus aus Komponist, setzte um, was er bei Paul Klee gelernt hatte, und kombinierte der Probe halber eine Schnulze mit einer Bachfuge. Von einer Ohrfeige seines Lehrers ermutigt, baute er dieses Prinzip aus und bestückte acht Grammofone von regulierbarer Geschwindigkeit mit extrem verlaaangsaaamten Beethoven-Sinfonien, mit einem viel zu schnell laufenden Trauermarsch, mit Schlagern, Walzern und anderem Unsinn mehr zu bestücken: „Wir fingen an, an ihm herumzuschmieren mit der gleichen Schmiere, mit der Duchamp der Mona Lisa einen Schnurrbart anpinselte.“ Der Aktivismus, den Wolpe als Mitglied der Berliner Novembergruppe entwickelte, gehört zu den schillerndsten Episoden seines Lebens. Wenn Wolpe derzeit anlässlich seines 100. Geburtstags mit einer Konzertreihe gewürdigt wird, dann dürfen auch die so burlesken wie grotesken Kammeropern der Berliner Jahre, „Schöne Geschichten“ und „Zeus und Elida“, nicht fehlen.

Die tobenden Werke der Zwanziger sind jedoch eher eine Marginalie in einem Oeuvre, das einen resoluten, aber insgesamt recht trockenen Personalstil erkennen lässt. Als Wolpe Berlin 1933 gen Palästina verließ, hatte er nicht nur den Dada und den Bauhaus verinnerlicht, sondern auch jede andere Strömung durchlaufen, die die musikalische Moderne bereithielt.

Wie die meisten Komponisten der ersten Jahrhunderhälfte erlag auch Wolpe der unwiderstehlichen Ausstrahlung der Zwölftontechnik, dem Versuch, musikalische Zusammenhänge jenseits der Tonalität herzustellen und eine Demokratie der Töne zu konstituieren. Nicht dass Wolpe sich der Macht plakativer Gesten nicht auch fortan erinnerte, etwa als er 1950 „Excerpts from Dr. Einstein’s Adress about Peace in the Atomic Era“ als Klavierlied vertonte. Seine integre sozialistische Haltung hat Wolpe, der bis in die Achtziger hinein in Deutschland nicht aufgeführt wurde, auch in den USA beibehalten. Aber er hat sein kompositorisches Interesse von den Äußerlichkeiten in die Musik selbst verlegt. Zusammenhänge sollten jetzt nicht mehr zwischen einer Arznei und einem Fisch hergestellt werden, sondern zwischen Intervallen und Rhythmen.

Am leichtesten greifbar werden die Spuren des Dada noch in den außergewöhnlichen Besetzungen, die Wolpe entworfen hat. Ein Quartett für Oboe, Violoncello, Schlagzeug und Klavier zum Beispiel hatte es auch 1955 in der klassischen Musik noch nicht gegeben. Wolpe selbst brachte sein ästhetisches Credo 1959 auf den Punkt: „Überraschung mit Rätsel mischen, Zauber mit Schock, Intelligenz mit Hingabe, Form mit Antiform.“

BJÖRN GOTTSTEIN

Konzerthaus am Gendarmenmarkt 2, Mitte, Mi.–Sa., jeweils 20 Uhr