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: AKTHAM SULIMAN über die Unauffälligkeit des Auffälligen

„Der 11. September hat unser aller Biografien verändert“

Ist New York nun „das Herz“ der westlichen Welt, wie die Extremisten und die Westler gleichermaßen behaupten? Oder eher der Magen? Oder der Kopf, wie viele kopflose Äußerungen nach den Anschlägen vom 11. September belegen? „Wie haben Sie den 11. September erlebt?“, lautete neulich die Frage eines Journalisten an einen deutschen Politiker, der eine Pressekonferenz zu erneuerbaren Energien abhielt. Jetzt bloß keinen Fehler machen, wünschte ich ihm. Bloß nicht so etwas sagen wie: Ich war essen in der Kantine. Am 11. September darf es nichts Normales gegeben haben. Keine Kantine, kein Essen, kein sonstiges Treffen. Am 11. September darf es nur Hochhäuser und Passagierflugzeuge gegeben haben. Adäquat antwortete der Befragte mit einer betroffenen Stimme: „Der 11. September hat unser aller Leben verändert.“ Ich atmete auf.

Vieles bekommt jetzt eine neue Zeitrechnung und wird erst mit dem Datum „11. September“ lokalisierbar, bedeutsam: zwei Tage vor dem 11. September, drei Wochen nach dem 11. September und nun der erste Jahrestag. Und wann wurde Jesus geboren? Genau, 2000 und ein Jahr vor dem 11. …

Dabei veränderte die Wirkung des 11. September alles, nicht so sehr das Ereignis an sich. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Denn an den Wirkungen sind viel mehr Akteure beteiligt: Menschen, Institutionen und sogar Regierungen. Viele „Schläfer“ sind nach dem 11. September aufgewacht oder aufgeweckt worden: In den Verteidigungs- und Innenministerien zum Beispiel. Expertise und Wachsamkeit waren nun gefragt. Thema: Islam. Gefälligst in schnell geschnürten Sicherheitspaketen und 30-Sekunden-Statements für die Abendnachrichten. Die Zeit rennt und die Frage: Was haben Sie nach dem 11. September gemacht?, muss zügig beantwortet werden. Die Steigerungsform ist: Was haben Sie nicht gemacht? Der Fokus der Betrachtung liegt dabei auf einer „Spezies“ namens „Araber“ oder „Muslime“. Sicherheitspaletten, keine Pakete, müssen her. Die Unauffälligen, ob Hausfrauen oder Studenten, Händler oder Prediger sind mit den Sicherheitspaketen 1 und 2 schon bedient. Was aber ist mit den Auffälligen? Reicht es aus, Ussama-Bin-Laden-T-Shirts zu tragen, um keinesfalls für ein „Schläfer“ gehalten zu werden? Araber haben Besseres zu tun, als in Europa und Amerika genau das zur Schau zu stellen, was ihnen die Natur eh geschenkt hat, nämlich Auffälligkeit. Die ist aber neuerdings von Vorteil – natürlich seit dem 11. September.

Auf einer Podiumsdiskussion in Köln konnte sich kürzlich der Moderator nicht die Frage verkneifen: „Wie kommt man an die Videobänder von Bin Laden ran?“ Ich für meinen Teil jedenfalls werde meine Biografie nun 11.-September-mäßig optimieren: Geboren in der Omayyaden-Moschee mitten im radikalen Damaskus. Vater: ein bärtiger 24-Stunden-Beter, meine Mutter auch. Die Zeugung erfolgte auf Anweisung des Emirs. Nach 30 Jahren Koranschule mit 15 nach Tora Bora (islamische Zeitrechnung). Ein sowjetischer Granatsplitter ruiniert meine Zukunft als Kampfpilot. Folgt der Versuch, zur Zivilluftfahrt zu wechseln. Die deutsche Bürokratie tut ihr Übriges: Luft- und Raumfahrttechnik ist ein NC-Fach. Alter: 32 (wie Mohammed Atta). Letzter Auftrag: Für al-Dschasira einen gläubigen Kameramann zu rekrutieren. Letzter Wille: Vier Wochen Urlaub auf Guantánamo, all inclusive.

Suliman ist Berlin-Korrespondet des arabischen TV-Senders al-Dschasira