Bin Laden, der falsche Robin Hood

Die Anschläge vom 11. September haben das ambivalente Verhältnis der Araber zum Westen noch komplizierter gemacht. Bei McDonald’s essen und für militante Islamisten spenden – warum nicht? Das Mitgefühl für Terroropfer mischt sich mit der Freude über den vermeintlichen Triumph der Machtlosen

von KARIM EL-GAWHARY

Gut einen Monat nach dem 11. September feierte Bin Laden sein großes Debüt in Kairo. Mitten im Gewühl des Dattelmarktes im Norden der Stadt, zwischen Säcken voller brauner Früchte, wurde er feilgeboten: „Bin Laden“, der König der Datteln, von beachtlicher Größe, durchzogen mit süßlichem Saft, erst vor kurzem mit viel Liebe von den edelsten Palmen im Süden Ägyptens gepflückt. Das Gegenteil zu jener vertrockneten mickrigen Sorte, die auf dem gleichen Markt einer weniger kaufkräftigen Kundschaft unter dem Namen „George Bush“ angeboten wurde.

Wie sehr müssen die Araber den Westen hassen, um derartig zynisch ihre Produkte mit dem Namen jenes Mannes zu vermarkten, der den USA auf seine blutige Art und Weise den Krieg erklärt hat, fragt sich der westliche Beobachter. Doch gerade wenn er glaubt die Araber überführt zu haben, erlebt er möglicherweise eine andere Szene.

Die libanesische Bekaa-Ebene gilt als Hisbullah-Land. Es sind die schwarz uniformierten Kämpfer der schiitischen Guerillaorganisation, die hier das Sagen haben. Sie stehen auch an der Einfahrt zum „Drive In“ der McDonald’s-Filiale, die hier wenige Monate vor dem 11. September eröffnet wurde. Wie jeden Freitag haben sie ihre gelben Banner aufgezogen und sammeln Spenden. Und wie jeden Freitag gibt es eine ganze Reihe von McDonald’s-Kunden, die zwischen dem Obolus an die Islamisten und einem kurzen Lunch bei der US-Fastfood-Kette keinen Widerspruch empfinden.

Er habe keine Probleme mit den Leuten von der Hisbullah, bestätigte auch der örtliche McDonald’s-Filialleiter wenige Wochen vor dem 11. 9. Im Gegenteil: Freitags nach dem Mittagsgebet seien sogar einige der religiösen Scheichs höchstpersönlich dort zum Essen gekommen. Also doch alles paletti zwischen Morgen- und Abendland?

Viele Wege ins Paradies

Am besten lässt sich das Verhältnis der Araber zum Westen und speziell zu den USA wohl mit dem Wort „ambivalent“ beschreiben. Für viele Araber sind die Selbstmordattentäter des 11. 9. Märtyrer, die damit vermeintlich den Weg ins himmlische Paradies gefunden haben. Doch gleichzeitig stehen jeden Tag in den arabischen Hauptstädten tausende von Arabern Schlange vor den Konsulaten westlicher Staaten, um mit einem der begehrten Visa eine Eintrittskarte ins vermeintliche irdische Paradies zu ergattern.

Der ägyptische Politologe Muhammad Sid Ahmad beschreibt diese Widersprüchlichkeiten so: Die Anschläge vom 11. September hätten zwei Komponenten für die Menschen in der arabischen Welt: eine der Moral und eine der Genugtuung. Der Schock über die menschenverachtende Tat sei oft überschattet gewesen von dem guten Gefühl, dass Machtlose endlich einmal effektiv gegen ein Symbol der Macht zugeschlagen hatten.

Nicht der Westen als solches war damit gemeint, auch nicht die USA, sondern deren Politik. Das World Trade Center war der Inbegriff für diese Politik, deren Auswirkungen zu den täglichen negativen arabischen Erfahrungen zählen. „Das Problem ist aus arabischer Sicht nicht so sehr der Westen oder seine Werte, sondern das, was der Westen oder, genauer gesagt: die USA uns antun“, erklärte der vor kurzem verstorbene ehemalige ägyptische Diplomat Tachseen Baschir wenige Monate nach dem 11. September.

Auch Ussama Bin Laden selbst hat in seinen Videoansprachen während des Afghanistankrieges weniger mit generellen Themen der westlichen Zivilisation, sondern mit Hinweisen auf die US-Politik in Palästina und Irak mobilisiert. Also mit jenen Themen, die den kollektiven arabischen Gemütszustand ansprechen, immer auf der Verliererseite zu stehen. Die einseitige Parteinahme der USA für Israel steht dabei im Zentrum dieses Gefühls, stets den Kürzeren zu ziehen.

„Wenn wir heute den arabischen Antiamerikanismus betrachten, dann entspringt er zu 90 Prozent aus der strategischen Allianz zwischen Washington und Israel“, glaubt der ägyptische Politologe Muhammad Sayyed Said, der jahrelang im Al-Ahram-Zentrum für strategische Studien in Kairo geforscht hat. Von den Palästinensern werde erwartet, für eine friedliche Besatzung zu sorgen, während von Israel kein Ende der Besatzung eingeklagt wird. Das, so Said, stürze selbst den prowestlichsten Araber in eine tiefe Depression.

Die Helfer der Despoten

Diese Depression wird noch verstärkt durch die westliche Parteinahme im angespannten Verhältnis der Araber zu ihren eigenen Herrschern. Keine einzige arabische Regierung ist tatsächlich demokratisch gewählt, kein einziger arabischer Herrscher kann von seinen Bürgern oder Untertanen ernsthaft zur Rechenschaft gezogen und abgewählt werden. Die USA aber zählen zu den wichtigsten Unterstützern arabischer Despotien, beispielsweise der korrupten Königshäuser am Golf.

Damit setzen sie eine alte Tradition fort: Bereits kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Februar 1945, kam es zu einem historischen Treffen des US-Präsidenten Roosevelt mit dem saudischen König Ibn Abdel Asis as-Saud auf dem Kriegsschiff USS Quincy im ägyptischen Suez. Der Handel zwischen den beiden war schnell abgeschlossen: Saudi-Arabien liefert billiges Öl und die USA sorgen für die Sicherheit – aber nicht Saudi-Arabiens, nicht der saudischen Bürger, sondern der königlichen Familie Saud.

So ist im Laufe der Jahre zwischen dem Westen und so manch arabischen Regime eine solide Interessensgemeinschaft entstanden, von der die arabischen Bürger und deren Anliegen aber stets ausgeschlossen bleiben.

„Der Kulturkampf ist eine westliche Erfindung, in Wirklichkeit dreht sich alles um Politik“, antwortet der radikale Islamist Muntazir Zayat auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der arabischen Welt und dem Westen. Also doch nicht christliche Welt gegen islamische Welt? Lange hält Zayat seine Linie nicht durch. Schon bald spricht er vom „westlichen Angriff auf die islamische Identität“ und erinnert daran, dass US-Präsident Bush nach dem 11. September seinen Feldzug gegen den Terrorismus als „Kreuzzug“ titulierte. Dass Bush dieses Wort später zurückgenommen hatte, konnte Zayat nicht mehr überzeugen. Es sei halt doch ein freudscher Versprecher gewesen.

Jeder wisse, dass es sich in Wahrheit um einen Kreuzzug handele, sagt auch der ägyptische Psychologieprofessor Muhammad Abu Nil. Es gehe dem Westen darum, die islamische Persönlichkeit zu verändern. Gerade nach dem 11. September sei deutlich geworden, dass der Westen den islamischen Glauben selbst modifizieren wolle. So habe er beispielsweise immer wieder dem Islam das Prinzip des Dschihad abgesprochen und dem seine eigene Islaminterpretation entgegengesetzt.

In der Tat scheinen der 11. September und die westliche Reaktion darauf zwar nicht die Islamisten selbst, aber deren Gedankengut in den arabischen Gesellschaften insgesamt verstärkt zu haben. So fand in der arabischen Welt spiegelverkehrt zu den westlichen Diskussionen über den Kampf der Kulturen eine Debatte über die Verteidigung der islamischen Werte statt. In unzähligen islamistischen Publikationen wird diese Frage seitdem debattiert. „Amerika möchte unseren islamischen Diskurs verändern, um einen zersetzten und verschlissenen Islam zu schaffen, der nichts mehr ausrichten kann“, heißt es etwa in einer Publikation namens Mukhtar Islami, einer Art islamistischem Reader’s Digest, der von fliegenden Zeitungshändlern an jeder größeren Straßenkreuzung Kairos feilgeboten wird.

Der islamistische Diskurs, der stets die Unterschiede zum Westen betont, sei zum Allgemeingut geworden, erklärt der Politologe Muhammad Sayyed Said.

Gefühl der Impotenz

Der Diplomat Baschir dagegen empfand sowohl das westliche Gerede vom Kampf der Kulturen als auch den islamistischen Diskurs vom „Bewahren der islamischen Identität“ als irrational. „Es ist mindestens auch ein Kampf zwischen uns und uns“, so der liberale Intellektuelle, zwischen „jenen, die auch in einer islamischen Gesellschaft Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit anerkennen, und anderen, deren einzige Referenz aus den Fußnoten der Vergangenheit besteht, mit denen sie über Gegenwart und Zukunft herrschen wollen.“

Selbst das negative Bild des Westen ist vielschichtig. Der Westen als Kreuzzügler, als Kolonisator, als Alliierter Israels, als Unterstützer archaischer politischer Regime – für die Araber gibt es viele gute Gründe skeptisch in Richtung Westen zu blicken. Manchmal übernimmt der Westen auch die Rolle des Sündenbocks für alles. „Der Westen ist für uns wie ein Kleiderbügel, auf den wir all unsere dreckige Wäsche hängen“, beschreibt der Strategieforscher Sayyed Said dieses Phänomen. Oft ersetzt der Antiamerikanismus oder die Abneigung gegen den Westen die nötige arabische Selbstkritik.

Der starke Westen, erklärte Baschir, führe den Arabern täglich ihre Machtlosigkeit vor. „Doch anstatt nach den Gründen dafür zu fragen, verhalten wir uns wie ein impotenter Mann, der seine Frau schlägt.“

Das Gefühl der Impotenz war nicht immer vorhanden, auch wenn für den ägyptischen Psychologen Abu Nil der Westen während der letzten Jahrhunderte in der arabischen Psyche stets als mächtiger Kolonisator auftrat.

Die Frage ist, warum sich das „Hass-den-Westen-Syndrom“ in den letzten zwei Jahrzehnten in der arabischen Welt ganz besonders verschlimmert hat. Eigentlich hätte es doch in der postkolonialen Zeit einfacher werden müssen. Laut dem Politologen Muhammad Sid Ahmad habe dies vor allem mit einer veränderten Grundstimmung zu tun. Selbst in den schlimmsten Kolonialzeiten herrschte die Hoffnung des Antikolonialismus und der großen Befreiungsbewegungen, später folgten die großen nationalen Projekte. Die damalige Hoffnung auf Veränderung wurde in den letzten Jahrzehnten durch Verzweiflung und das Gefühl der Machtlosigkeit ersetzt. „Was immer die Araber tun, am Ende wird es immer einem anderen zum Vorteil gereichen“, sagt Sid Ahmad. Wer dieses Prinzip der Ausweglosigkeit einmal verstanden hat, der landet bald bei Bin Laden. Machtlose feiern schnell denjenigen, der vermeintlich etwas gegen die Macht unternimmt. „Das ist unser Dilemma“, sagte Baschir. „Wir können weder Bin Laden noch die arabischen Afghanen unterstützen, aber gleichzeitig sind sie die Einzigen, die irgendetwas tun.“

Was Bin Laden getan hat, wird von vielen Arabern als falsch angesehen, aber gleichzeitig erntete er dafür arabische Anerkennung, überhaupt etwas gemacht zu haben. Mangels Alternative und aus Mutlosigkeit wurde so ein Mörder tausender unschuldiger Zivilisten zum falschen arabischen Robin Hood erkoren.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes aus dem Band „Ein Tag im September: 11. 9. 2001, Hintergründe, Folgen, Perspektiven“. Vorwort von Butros Butros-Ghali, Herausgeber: Georg Stein und Volkhard Windfuhr, Palmyra Verlag 2002, 408 Seiten, 26 €.