Schwuler Heiliger

Pater Mychal Judge wird in den USA als Held verehrt. Für Kirche und Konservative bleibt er, was er immer war: ein Problemfall

von AXEL KRÄMER

Melancholische Panflötenmusik ertönt. Salbungsvoll klingen die Sätze, die nacheinander auf dem weißen Hintergrund erscheinen: „Auch nach seinem Tod am 11. September wird sein Leben weiter wirken“, heißt es zunächst. „Als andere aus dem Gebäude flohen, stürmte er hinein. Als andere Leben retteten, rettete er Seelen.“ Dann deutet sich geheimnisvoll ein Konflikt an: „Vor dem Hintergrund eines Skandals, der die Kirche zu spalten droht, scheint sein Leben auf wie ein Leuchtfeuer der Wahrheit.“

So könnte der Trailer für ein episches Hollywood-Drama beginnen. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Intro einer Website, die einem gefeierten New Yorker Helden vom 11. September gewidmet ist: Mychal Judge, franziskanischer Priester und Feuerwehrkaplan in Manhattan. Es wird erzählt, dass er im Inferno des World Trade Centers einem Feuerwehrmann den letzten Segen erteilte und beim Abnehmen seines Helmes von einem herabstürzenden Gebäudeteil erschlagen wurde.

Schon zu Lebzeiten war der Kaplan zu einem Mythos geworden – zumindest für die Hinterbliebenen der Flugzeugkatastrophe auf Long Island vom Juli 1996, die er seelisch betreute. Das war in seinen letzten Jahren zur Lebensaufgabe geworden.

Von Giuliani geehrt

Zwei Monate nach seinem Tod – er wurde 68 Jahre alt – beschloss der Stadtrat von New York, einen Abschnitt der 31. Straße auf der westlichen Seite Manhattans nach Mychal Judge zu benennen. Inzwischen hat sich in den USA eine Initiative aus Katholiken, Feuerwehrleuten und Sympathisanten des Priesters gebildet, die gar die Heiligsprechung von Judge fordern – und sich dabei unter anderem auf ein Zitat von Rudolph Giuliani berufen. „Er war ein Heiliger, ein wunderbarer Mensch“, sagte der frühere New Yorker Bürgermeister in einer Rede auf Judges Trauerfeier.

Kurz nach seiner Beerdigung wurde Judges Feuerwehrhelm mit einem Kreuz geschmückt und offiziell an den Papst übergeben, als dieser im Herbst 2001 die Familienangehörigen der 343 getöteten Feuerwehrleute vor dem Petersdom empfing. Doch mit der Forderung nach einer Heiligsprechung gerät das katholische Oberhaupt in Schwulitäten. Pater Mychal Judge hatte sich offensiv zu seiner Liebe zu Männern bekannt – für den Vatikan nach wie vor ein sündhafter Trieb, den es zu bekämpfen gilt.

Dass Judge schwul war, wird in der Berichterstattung der Medien häufig ignoriert. Dabei machte der Pater nie ein Geheimnis daraus. Bereits in den 80er-Jahren engagierte er sich für Aidskranke, die damals von kirchlichen Kreisen ausgegrenzt wurden. In den 90er-Jahren setzte er sich für die Teilnahme schwul-lesbischer Gruppen an der katholischen „St. Patrick‘s Parade“ ein – gegen den Widerstand von Kirchenvertretern in New York. Diesen ist jetzt auch die Initiative für Judges Heiligsprechung ein Dorn im Auge.

Umstrittene Milieus

Angesichts der wachsenden Publicity für Judge brachte neulich Pater John Felice die Vorbehalte der Kirchenbehörden zum Ausdruck. Der Kaplan sei zwar eines „heldenhaften Todes“ gestorben, so der Sprecher der New Yorker Franziskanerprovinz, doch er habe sich manchmal auch in „umstrittenen Milieus“ bewegt. Die Forderung nach einer Heiligsprechung sei seiner Ansicht nach „ein Fehler“. Auch sein Kollege Kardinal O’Connor zählt nicht zu Judges Anhängern: „Wann immer Mychal Geld von besonders konservativen Spendern erhielt, soll er es sofort an Schwulenorganisationen gespendet haben“, klagte Conner gegenüber dem New York Magazine, „ich weiß nicht, ob das stimmt, aber das entsprach sicher seinem Humor.“

Die Initiative für den schwulen Feuerwehrkaplan droht nun den Konflikt in der katholischen Kirche um ihre ablehnende Haltung zur Homosexualität einmal mehr zu entfachen. Aber auch unter konservativen Politikern ist ein Streit über den schwulen Helden ausgebrochen.

Als prominentes Opfer des 11. September ist Judge zum Namenspatron eines neuen Gesetzes in der amerikanischen Rechtsprechung geworden. In der letzten Juniwoche segnete Präsident George W. Bush den „Mychal Judge Act“ mit seiner Unterschrift offiziell ab. Er ermöglicht erstmals, dass gleichgeschlechtliche Partner von Polizeibeamten und Feuerwehrleuten staatliches Sterbegeld in Höhe von 250.000 Dollars in Anspruch nehmen können, wenn ihre Partner während der Ausübung ihres Dienstes ums Leben kommen. Bislang galt diese Regelung nur für verheiratete Heterosexuelle und Blutsverwandte.

Ursprünglich war das Gesetz nicht zum Zwecke der Gleichstellung von Schwulen und Lesben vorgesehen. Anlass für die Neuregelung war der Tod von einigen Feuerwehrleuten am 11. September, deren Angehörigen nach altem Recht kein Sterbegeld zustand.

Zum Kreis der Begünstigten gehören nun alle, die in der Police der Lebensversicherung des Verstorbenen eingetragen sind. Das können neben Eheleuten, Geschwistern, Kindern oder Eltern auch unverheiratete Lebensgefährten sein – wer auch immer. Die sexuelle Orientierung spielt dabei eigentlich keine Rolle. Doch Schwule und Lesben sehen sich als Hauptgewinner des neuen Gesetzes, weil sie damit erstmals auf eine gleichberechtigte Stufe gestellt werden. Genau aus diesem Grund herrscht im rechten Lager nun Katzenjammer. Einen Triumph der Homobewegung hatte man gewiss nicht beabsichtigt – und auch nicht vorhergesehen.

Dabei hatte es durchaus Warnungen gegeben. Wie die New York Times berichtete, hatte das Justizministerium in einem Brief an alle Abgeordneten darauf hingewiesen, die Neuregelung könne „unbeabsichtigte und unglückliche Nebeneffekte“ zeitigen. Ungeachtet dessen passierte das Gesetz beide Kammern des Kongresses. Zu verdanken ist dies vor allem dem demokratischen Initiator Jerrold Nadler, der aber auch von seinem republikanischen Kollegen Donald Manzullo unterstützt wurde.

Manzullo war bislang nicht gerade für eine homofreundliche Politik bekannt. Jetzt steht er in seiner Partei unter Druck, und neulich fühlte er sich dazu genötigt, sich von Schwulen und Lesben öffentlich zu distanzieren: „Mit der Gay Community hab ich nichts am Hut“, betonte Manzullo in der New York Times, „von der neuen Regelung profitieren schließlich auch andere.“

Seine Parteifreunde ließen sich von diesem Argument jedoch nicht beruhigen, und auch von George W. Bush fühlen sich einige getäuscht: „Ich bin sehr betrübt, dass der Präsident das Gesetz unterzeichnet hat“, klagte etwa Paul Weyrich. Der langjährige Aktivist der religiösen Rechten fürchtet, der Mychal Judge Act könne zu einem „Präzedenzfall“ für schwul-lesbische Forderungen hochstilisiert werden – zumal nun auch zunehmend über die Homosexualität des Namenspatrons debattiert wird.

Viele Abgeordnete hatten davon bis vor kurzem keinen Schimmer. Im Weißen Haus war man sich der prekären Situation bewusst – auch wenn ein Sprecher ausdrücklich betonte, der Präsident habe das Gesetz nicht als „schwule Angelegenheit“ gesehen. In der Pressemitteilung des Weißen Hauses war von gleichgeschlechtlichen Partnern wohlweislich nicht die Rede.

Bekannt gegeben wurde das Gesetz in einer knappen E-Mail, unmittelbar nach einer Rede Bushs zum Nahen Osten. Offenbar hofften Bushs Leute, dass so nicht viel Aufhebens darum gemacht würde. Doch weit gefehlt.

Lobeshymnen für Bush

Von der größten schwul-lesbischen Organisation der USA, der Human Rights Campaign (HRC), wurde Bush gegen seinen Willen mit öffentlichem Lob überschüttet. David Smith, rechtspolitischer Sprecher der HRC, jubelte, das Gesetz markiere „einen bedeutsamen Meilenstein in der schwul-lesbischen Emanzipation“, und brachte gleichzeitig seine Hoffnung zum Ausdruck, der Präsident möge zukünftig gegenüber der „Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben aufgeschlossener sein, als dies in der Vergangenheit nach außen deutlich wurde“.

Inzwischen verdichtet sich das Bild von Mychal Judge in der Öffentlichkeit mehr und mehr zu dem einer Symbolfigur – vor allem in der Gay Community, die ihn teilweise kultisch verehrt. In diesen Tagen erscheint von BBC-Reporter Michael Ford eine Biografie auf dem amerikanischen Buchmarkt, die seine Geschichte erzählt: „Mychal Judge: Ein authentischer amerikanischer Held“. Eine weitere Biografie von einem Reporter der Daily News ist bereits in Arbeit.

Ob dem schwulen Feuerwehrkaplan die Forderung nach seiner Heiligsprechung recht wäre, darf indes bezweifelt werden. Mindestens einmal in seinem Leben brachte Judge eine gewisse Distanz gegenüber dem Bestreben zum Ausdruck, einzelne Personen auf ein Podest zu stellen und ihre Leistungen zu überhöhen. Einer Anekdote des New York Magazine zufolge hielt er einmal im Weißen Haus eine Rede über die Gefahren des Alkoholmissbrauchs. Judge, einst selbst alkoholabhängig, sagte gegenüber Bill Clinton, er sei davon überzeugt, dass die Gründer der „Anonymen Alkoholiker“ mehr für die Menschheit getan hätten als Mutter Teresa.

Auch wenn ihm der Kult um seine Person vermutlich zu viel wäre – über die Gleichstellung von Schwulen und Lesben durch das nach ihm benannte Gesetz hätte sich Judge zweifellos gefreut. Ohne die Ereignisse des 11. September wäre sie freilich nicht zustande gekommen.