Der erste Verfassungsentwurf

Europas Konservative legen EU-Verfassung mit 200 Artikeln vor. Er sieht eine Stärkung Brüssels und eine Schwächung der Regierungen vor. Kritik kommt aus Paris und Madrid

BRÜSSEL taz ■ Als der konservative Europaparlamentarier Elmar Brok am Dienstagmorgen vor die Presse trat, hatte er einen fertigen Verfassungsentwurf im Gepäck. Der stamme aber nicht vom kleinen Häuflein konservativer Europaparlamentarier im Konvent, die sich sozusagen qua Amtes für die europäischen Institutionen stark machen. Das Papier sei im Auftrag der ganzen „politischen Familie“ der Konservativen entstanden. Ob denn die Tories in diesem Falle auch dazugehörten, wurde er prompt gefragt. Broks Antwort sprach für sich: Die britischen Kollegen hätten das Papier „zur Kenntnis genommen“.

Der von dem deutschen CDU-Abgeordneten und Rechtsexperten Rupert Scholz mit verfasste Entwurf könnte auch aus der Feder eines Sozialisten stammen. Zumindest ein Verfassungsvertrag der deutschen Sozialdemokraten würde nicht wesentlich anders aussehen. Die ersten 54 der 200 Artikel bestehen aus der Grundrechte-Charta. Ein Vorgänger dieses Konvents hatte sie unter Führung von Roman Herzog vor zwei Jahren ausgearbeitet. Die Regierungschefs haben sich bislang geweigert, sie in die EU-Verträge aufzunehmen. Nach dem Entwurf der Konservativen sollen die darin garantierten Rechte von jedem EU-Bürger beim Europäischen Gerichtshof eingeklagt werden können.

In den folgenden knapp 150 Artikeln wird die Funktion der europäischen Institutionen neu definiert und die Arbeitsweise übersichtlich beschrieben. So soll die EU künftig nur noch dann tätig werden, wenn die Aufgaben in Brüssel besser gelöst werden können als in den Mitgliedsstaaten. Eine neue „Kompetenzkammer“ beim Europäischen Gerichtshof soll dafür sorgen, dass dieser Grundsatz eingehalten wird.

Europaparlament und nationale Regierungen sollen gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt sein. Die Fachministerräte werden aufgelöst. Fachkonferenzen bereiten die Sitzungen des neuen „Legislativrates“ vor, in den jedes Mitgliedsland einen Vertreter seiner Wahl entsendet. Er tagt öffentlich. Der EU-Ratsvorsitz wechselt weiterhin alle sechs Monate, falls die Mitglieder des Rats das Mandat nicht verlängern. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich weiter wie bisher regelmäßig zum „Europäischen Rat“, um die Grundzüge ihrer Politik abzustimmen.

Die Kommission wird verkleinert und im Wechsel von den Mitgliedsstaaten besetzt. Somit verfügt in Zukunft nicht mehr jedes Land über „seinen“ Kommissar. Der Kommissionspräsident wird vom Parlament gewählt und vom Rat bestätigt. Ein Kommissar für Außenpolitik vertritt die EU gegenüber Drittstaaten. Der Posten eines außenpolitischen Vertreters im Rat – also die bisherige Aufgabe Javier Solanas – wird abgeschafft. Elmar Brok räumte allerdings ein, dass diese beiden Punkte in der „politischen Familie“ umstritten sind.

Am Montag hatte Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi fünf konservative Regierungschefs in seine Privatvilla nach Sardinien eingeladen. Zwar wurde dort nach offizieller Version nur kurz über die Reform der EU-Verträge gesprochen. Die Tatsache, dass Wolfgang Schäuble dazugebeten war, spricht aber für sich. Er hat zusammen mit dem Vorsitzenden der europäischen Konservativen, Winfried Martens, das Grundsatzpapier verfasst, das dem jetzigen Verfassungsentwurf zugrunde liegt.

Teilnehmer berichteten hinterher, über das Konzept des Außenkommissars und die Stellung des Kommissionspräsidenten sei heftig gestritten worden. Während der Luxemburger Premier Claude Juncker als Vertreter der kleinen Länder das Konzept gutheißt, fürchten die Großen – bei dem Treffen vertreten durch Spaniens Regierungschef José María Aznar und Frankreichs Premier Jean-Pierre Raffarin – um ihren außenpolitischen Einfluss.

Nächsten Monat beim konservativen Europakongress in Portugal wird das Schäuble-Martens-Papier auf der Tagesordnung stehen. Elmar Brok hat bereits angedeutet, dass es beim Außenkommissar und der Wahlprozedur des Kommissionspräsidenten Verhandlungsspielraum gibt. Sollte nach der innerparteilichen Feuerprobe der Entwurf in seiner Substanz noch gelten, kommt der Konvent in seine spannende Phase. Denn dann liegt ein Verfassungsentwurf auf dem Tisch, der leicht lesbar und logisch aufgebaut ist. Er greift viele in der Debatte angesprochene Probleme auf. Die anderen „politischen Familien“ brauchten nur noch zuzustimmen.

Berlusconi soll sich bei der vertraulichen Runde auf Sardinien zurückgehalten haben. Ihm liegt daran, dass der Konvent rasch zu einer Einigung kommt. Denn dann könnte der neue Vertrag schon Ende 2003 unter italienischer Präsidentschaft unterzeichnet werden – und als „Vertrag von Rom“ in die Geschichte eingehen. DANIELA WEINGÄRTNER