Das Fußvolk begehrt auf

Nur zu gerne würde Konventspräsident Giscard d‘Estaing ein Europa nach seiner Façon schaffen. Doch die Delegierten organisieren sich immer besser

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Zum ersten Mal seit zwei Monaten treffen heute in Brüssel wieder alle Mitglieder des EU-Konvents zusammen. Untätig waren sie aber während der langen Pause keineswegs. Der patriarchische Vorsitzende Giscard d‘Estaing hat seinen Schäfchen nach der „Phase des gegenseitigen Zuhörens“ von nun an die „Phase des Studiums“ konkreter Vorschläge verordnet. Via Le Monde und Süddeutsche Zeitung ließ er die Delegierten wissen, wie „Europas letzte Chance“ auszusehen hat. Damit sorgte er schon vor Sitzungsbeginn für dicke Luft. Niemand habe in der Debatte verlangt, die EU solle neue Zuständigkeiten in der Sozialpolitik erhalten, behauptet Giscard in seinem Artikel. Dass der alte Herr nur hört, was er hören will, lässt sich in den schriftlich eingereichten Debattenbeiträgen auf der Website des Konvents nachlesen (http://european-convention.eu.int/).

Der einzige Grüne im Konvent, der Österreicher Johannes Voggenhuber, protestierte denn auch wütend. Auch die Sozialisten merkten an, die sozialpolitische Komponente der EU solle sehr wohl gestärkt werden.

Bei vielen Konventsmitgliedern bestünde „die Versuchung“, den Wunsch der Bürger nach durchschaubaren politischen Prozessen „in institutioneller Weise zu deuten“, rügte Giscard in seinem Aufsatz milde. Der Bürger interessiere sich aber gar nicht für die langweile Diskussion, ob das Parlament oder der Rat mehr Macht erhalten solle. Auch diese Behauptung wird im Konvent nicht unwidersprochen bleiben. Schließlich lassen sich gut informierte EU-Bürger nicht von einem gönnerhaften Expräsidentund Demokratie sei zu haben, ohne dass die Macht zwischen den Institutionen nach neuen Spielregeln verteilt wird.

Das Fußvolk im Konvent war aber den Sommer über auch nicht faul. In ganz unterschiedlichen Gruppierungen trafen sich die Delegierten und sorgten dafür, dass für die „Phase des Studierens“ etwas auf dem Tisch liegt. Das Meinungsbild ist ziemlich verwirrend. Zum einen stecken die so genannten politischen Familien, in denen sich Angehörige der gleichen Partei zusammentun, regelmäßig die Köpfe zusammen. Es gibt aber auch Zirkel konservativer Regierungsvertreter, Arbeitsgruppen zu Sachthemen oder Treffen der weiblichen Konventsmitglieder.

Die Tatsache, dass in der Zwischenzeit in Europa gewählt wurde und manche Regierungen umgebildet worden sind, macht die Sache für die Beobachter noch undurchschaubarer. So saß die konservative Europaabgeordnete Ana Palacio von Anfang an als Vertreterin der spanischen Regierung im Konvent. Die Kollegen im Parlament zählten sie aber zu den eigenen Truppen – und lagen damit ganz richtig. Denn Tür an Tür mit den Fraktionskollegen Íñigo Méndez de Vigo oder Elmar Brok, die beide eine starke Union wollen, war sie in deren Gedankenwelt eingebunden, obwohl sie eigentlich die Position des Regierungschefs Aznar vertreten sollte. Aus der Sommerpause kommt Palacio als Außenministerin zurück – in der neuen politischen Umgebung könnte sich ihr politischer Standpunkt verändern.

Auch Pierre Moscovici wird sich an eine neue Rolle gewöhnen müssen. Nach der Wahl kündigte die neue französische Europaministerin an, die konservative Regierung werde eine Person ihres Vertrauens in den Konvent entsenden. Nun soll Moscovici bleiben – aber der enge Draht, den der Sozialist zur Regierung Jospin hatte, besteht zu Raffarin und Chirac natürlich nicht.

Und auch der deutsche Regierungsvertreter Peter Glotz muss sich fragen, ob nach dem 22. September ein anderer an seiner Stelle sitzen wird. Schon 40 der 120 Delegierten sollen seinen Vorschlag unterschrieben haben, den Kommissionspräsidenten zu stärken, indem er künftig direkt vom Parlament gewählt wird. Der deutsche Bundeskanzler hat sich ebenfalls für dieses Modell ausgesprochen, das die Kommisson unabhängiger vom Rat machen würde. Andere Regierungschefs, darunter die Spaniens und Großbritanniens, sowie auch der Präsident Frankreichs sähen lieber einen vom Rat gewählten EU-Präsidenten als Chef der Union.

Der italienische Vizepräsident des Konvents, der Sozialist Giuliano Amato, erregte mit dem Vorschlag Aufsehen, er wolle eine „Scheidungsklausel“. Länder, die gemeinschaftliche Politik über einen längeren Zeitraum blockierten, sollten ausgeschlossen werden können. Der deutsche Sozialdemokrat Klaus Hänsch, der zusammen mit Amato im Präsidium des Konvents sitzt, wurde mit der Schlagzeile gewürdigt, er wolle den Stabilitätspakt in die Verfassung schreiben. Bei näherem Hinsehen erwies sich der Vorschlag als wenig schlagzeilenverdächtig: Schon jetzt haben sich die Mitgliedsstaaten im EU-Vertrag detaillierte Sparregeln verordnet. In sechs Arbeitsgruppen haben die Delegierten während des Sommers ihre Ideen gebündelt. Von Anfang Oktober an sollen sie vortragen, wie zum Beispiel Wirtschaftpolitik und Kompetenzverteilung in einer reformierten EU geregelt sein sollen.

Wie Giscard d‘Estaing aus diesem Gewirr bis Anfang November einen Verfassungsentwurf gießen will, bleibt sein Geheimnis. Die Eile deutet darauf hin, dass er sich „auf eine bloße Präambel und einige lyrische Formeln“ beschränken will, wie der deutsche Abgeordnete Brok befürchtet. Für leere Floskeln werden die Delegierten aber kaum ihren Finger heben. Dafür sind die Ideen, die von morgen an auf den Tisch kommen, viel zu gut.