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Die inoffizielle Katastrophe

aus New York KARINE GANTIN

Sie sprechen leise, entschuldigen sich für ihr schlechtes Englisch und haben nie Zeit. Sie beäugen den Fotoapparat mit Misstrauen und kriegen Angst, wenn man sie fragt, wie sie heißen. Dabei haben sie meistens jeder eine ganze Palette von Namen parat: den richtigen, ein Pseudonym für die Nachbarn, ein anderes für den Arbeitgeber, ein drittes für die Polzei. Aber wäre es angemessen, hier noch einen falschen Namen zu erfinden? Hier im New Yorker Büro von Tepeyac, der mexikanischen Organisation für illegale Einwanderer? Tepeyac in New York? Also sagen sie den richtigen. Aber nur den Vornamen, und statt der eigenen Geschichte erzählen sie vielleicht die eines anderen. Am Schluss haben sie es eilig und gehen.

39 Jahre war Ricardo alt, als er vor sechs Jahren in Perus Hauptstadt Lima seinen Job als Kassierer in einem Laden aufgab, seine Frau, Tochter und Eltern in seinem Elternhaus zurückließ und allein mit einem Touristenvisum über Miami nach New York flog. „Ich kam, um Geld zu verdienen“, erzählt er. „Einen anderen Grund, hier zu sein, gibt es nicht. Ich mag weder das Klima noch die Stadt noch die Menschen. New York ist so schnelllebig, dass man darin nicht normal leben kann. Arbeiten, schlafen, Geld verdienen – das ist alles. Das ist er wohl, der amerikanische Traum.“

100.000 Jobs vernichtet

Ricardo zog nach Queens, in die riesige Vorstadt nordöstlich von Manhattan, ins Kellergeschoss eines zweistöckigen Mehrfamilienhauses, zusammen mit zwei anderen Peruanern, die sich mit ihm die Miete von 750 Dollar im Monat teilten. Er arbeitete als Kellner in einem italienischen Restaurant sechs Blocks vom World Trade Center entfernt in Richtung der Bucht mit der Freiheitsstatue, mehrere Jahre lang im selben Job: sieben bis acht Stunden am Tag, fünf bis sechs Tage die Woche, im Monat 350 bis 400 Dollar, Trinkgeld eingeschlossen. „Von den Kunden kriegte ich mehr als vom Chef“, erinnert sich Ricardo. Am 11. September 2001 hörte er von den Anschlägen im Radio. Er glaubte es nicht, schaltete den Fernseher ein, rief seinen Chef an, der ihm riet, daheim zu bleiben.

Seitdem ist er zu Hause geblieben. Die Katastrophe des 11. September betraf nicht nur die Menschen, die in den Trümmern des World Trade Centers umkamen. Die ganze Mikroökonomie rund um die beiden Türme kam zum Erliegen. Bis zu 100.000 Arbeitsplätze gingen allein in Südmanhattan verloren, an vielen davon hatten Einwanderer ihren Lebensunterhalt verdient. Sie sind heute in einer Stadt gestrandet, in die sie einst zum Überleben gekommen waren.

Aber sie sind Opfer zweiter Ordnung. Denn wie viele der illegalen Einwanderer den 11. September gar nicht erst überlebt haben, weiß kein Mensch. Offiziell haben die US-Behörden 2.801 amtliche Opfer der Terroranschläge gezählt, keines mehr, keines weniger. Aber diejenigen, die gar nicht offiziell im World Trade Centre arbeiteten und trotzdem da waren, zählen nicht mit. Nicht dass man von ihnen nicht wüsste. In der Welle von Berichten des Herbsts 2001 war von den illegalen Einwanderern die Rede. Aber sie gingen unter in der Flut von Betroffenheit. Nach Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden dürften sich 200 bis 500 nichtregistrierte illegale Einwanderer zum Zeitpunkt des Anschlags im World Trade Center aufgehalten haben.

Joel Magellan Reyes, Leiter von Tepeyac, schätzt die wahre Zahl sogar auf nahezu 1.000. Als die Flugzeuge in die Türme krachten, waren die Büros voll – 50.000 Angestellte in 300 Firmen, die täglich 87 Tonnen Essen an den Arbeitsplatz geliefert bekamen und 30.000 Tassen Kaffee tranken. Dazu 14 private Sicherheitsdienste sowie 97 Fahrstühle und 300 Computersysteme, jeweils von eigenem Personal gewartet, oft Inder, Pakistanis, Chinesen, Afrikaner, Balkaneuropäer – Leute, die anders als die Latinos noch keine Selbsthilfegruppen haben.

64 Dossiers von Verschwundenen hat Tepeyac inzwischen zusammengestellt, aber das ist vermutlich nur ein geringer Teil. Es wird viel geschwiegen im Büro der Organisation in der 14. Straße von Manhattan. Und es hagelt Geschichten.

Zum Beispiel die von „Fernando Jimenez“, zum Todeszeitpunkt 21 Jahre alt, gestorben am Morgen des 11. September 2001 irgendwo in einem der beiden Türme des World Trade Centers. Fernando kam 15-jährig über die grüne Grenze aus Oaxaca, der armen mexikanischen Provinz mit der reichen Maya-Vergangenheit. In New York angekommen, wohnte er zunächst in besetzten Häuser voll Drogenabhängiger und Straßenkinder. Dann verdingte er sich bei einem Schnellrestaurant in Manhattan als Pizzabote und fand ein Quartier irgendwo in einem überbevölkerten Slumgebäude in der Bronx oder in Queens. Manchmal jonglierte er mit mehreren Jobs gleichzeitig, schlief nur vier oder fünf Stunden. Oder ein Arbeitgeber beutete ihn aus, gab ihm 70-Stunden-Wochen, von denen er nur die Hälfte zahlte. Es lässt sich nicht präzise feststellen.

Die Geschichten gleichen einander. Und niemand, den sie etwas angehen könnten, kennt sie: weder die Mutter in der Heimat, die auf gute Nachrichten wartet, noch die Freunde in der Illegalität, denen man möglichst wenig erzählt, denn man will sich nicht verraten. Fernandos Freunde kannten ausnahmsweise seine Adresse und die Telefonnummer seiner Familie; in den Tagen nach dem 11. September riefen sie seine Mutter in Oaxaca an und sagten ihr einfach, er sei seit dem Anschlag nicht wieder zur Arbeit gekommen. Dann schickten sie seine Sachen nach Hause. Auf dem letzten Foto, das die Familie von dem Toten hat, ist er gerade mal 14 Jahre alt.

Antonio aus dem 107. Stock

„Antonio Melvadez“ aus Hidalgo in Mexiko starb am 11. September 2001 im 107. Stock des Turms Nummer eins, zeitgleich mit seinen Kollegen im Restaurant „Windows on the World“. 75 Menschen arbeiteten dort an jenem Morgen offiziell und wie immer an Stoßtagen noch eine Reihe „Extras“, illegale Arbeiter, die man kurzfristig zur Verstärkung anheuerte, die keiner kannte, die niemand als vermisst meldete.

Tepeyac, die 1997 gegründete Selbsthilfegruppe für illegale Latinos in New York, wurde nach dem 11. September von Hilfsbedürftigen überschwemmt. Die vom Jesuitenpater Joel Magallan Reyes geleitete Gruppe, die sonst Englischkurse, Hausaufgabenstunden für Schulkinder, Computerschulungen und Rechtshilfe anbietet, musste nun zu den Behörden gehen und Familien verteidigen, die es offiziell gar nicht gibt und die daher nicht auf der Liste jener Familien stehen, die wegen des Verlusts eines Angehörigen bei den Anschlägen ein Recht auf staatliche Entschädigung haben. Selbst Bürgermeister Rudolf Giuliani hatte die illegalen Einwanderer ja aufgefordert, sich zu zeigen, und den Überlebenden die Legalisierung zugesichert. Aber es blieb bei Worten.

Gezerre um Totenscheine

Es dauert lange, einen Totenschein ausgestellt zu bekommen, wenn es keinen Beweis gibt, dass der Betreffende vorher gelebt hat. Es ist schwer, diesen Beweis vorzulegen, wenn man nicht weiß, unter welchem Namen der Verstorbene arbeitete, in welcher Bruchbude er wohnte und wer ihn angeheuert hatte, wie der Arbeitgeber hieß. So landeten verzweifelte Angehörige mit gebrochenem Englisch, unpräzisen Geschichten und unvollständigen Dossiers vor aggressiven Beamten, die andere Sorgen hatten.

So sucht zum Beispiel die Bäuerin „Felix Martinez“ aus Zaragoza in Mexiko bis heute ihren Freund „José“, der zuletzt am 11. September 2001 im World Trade Center gesehen wurde. Sie kam extra aus ihrem Dorf Puebla nach New York, schwanger mit dem fünften Kind. Keiner kann ihr sagen, wo José arbeitete, wo er wohnte. Sie überlebt jetzt mit Hilfe von Tepeyac, als Schatten eines Schattens, der sich um die in Puebla zurückgebliebenen vier Kinder sorgt.

Und wenn sie eines Tages den Beweis hätte, dass José dem Anschlag zum Opfer fiel? Es würde nichts nützen, denn sie waren nicht mit ihm verheiratet, und es gibt in der Entschädigungsfrage nur eine Situation, die aussichtsloser ist als die der Illegalität: die Illegitimität, also außerehe$liches Zusammenleben und außereheliche Kinder.

Es gibt auch diejenigen, die niemand beweint und die keiner sucht. Bruder José hat nicht mal einen Namen für den 18-Jährigen, der im World Trade Center Frühstück in die Büros lieferte und am 11. September 2001 wie durch ein Wunder rechtzeitig davonkam. Zu Hause in Mexiko hat er fünf Geschwister, für die er sorgen soll, denn der Vater sitzt im Gefängnis. Aber nachdem er überlebt hatte, stand er lange unter Schock, war allein in seinem kleinen Zimmer. Denn da merkte er: Wenn er tot wäre, hätte niemand es gemerkt, niemand hätte seiner Mutter Bescheid gesagt. Inzwischen ist er weggezogen, nach Chicago, wo er ein paar Kusinen hat.

Ricardo, der Kellner aus Peru, arbeitet nur noch tageweise, unregelmäßig, kann kaum noch Geld nach Hause schicken. Es reicht gerade noch für die Miete. Fernsehen, manchmal im Park spazieren gehen – andere Freizeitbeschäftigungen hat er nicht. Er lebt in New York wie im Käfig, scheint sogar mit seinen Gesten und mit dem Luftholen sparen zu wollen, und jeder Blick macht ihm Angst. Dann spricht er leiser, entschuldigt sich für sein schlechtes Englisch und hat keine Zeit mehr.

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