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Erst die Menschen, dann die Bilder

Die Utopien des absoluten Films, Vermessungen von Raum und Zeit, die Überwindung von Leinwand und Zuschauerraum: Mit „shoot shoot shoot“ zeigt das Kino Arsenal eine Sammlung britischer Experimentalfilme aus den Jahren 1966 bis 1976

von CLAUS LÖSER

William S. Burroughs steht mit seiner undurchdringlichen Miene vor einem Käfig, fixiert den darin hockenden Geier. Dann flaniert er am Ufer der Seine. Später sieht man ihn als „mad scientist“, dann als Junkie und schließlich als Militär, der einen folgenschweren Befehl ins Mikrofon knurrt: „Towers open fire!“. Daraufhin eliminieren Strahlenkanonen alles menschliche Leben. Szenen eines Films, den Burroughs mit Antony Balch und Brion Gysin 1963 in London und Paris gedreht hat.

„Towers open fire!“, so auch der Titel des Films, war der Versuch einer Rückübersetzung der berühmten Cut-up-Technik vom Literarischen ins Filmische. Das selten gezeigte Dokument ist jetzt im Rahmen des durch Deutschland tourenden Programms „shoot shoot shoot – Das erste Jahrzehnt der ‚London Film-Makers Cooperative‘ 1966–76“ zu sehen. Insgesamt gehören 55 in acht Blöcken zusammengefasste Filme zu dieser Retrospektive – in bislang nie gesehener Breite wird damit auf die britische Spielart eines kulturhistorischen Phänomens hingewiesen, dessen Einfluss auf die aktuelle Bildsprache in keinem Verhältnis zum Bekanntheitsgrad seiner Exponenten steht.

Man braucht heute nur durch die Musikkanäle zu zappen, um auf Spuren der filmischen Avantgarde zu stoßen, wie sie sich Ende der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre in Westeuropa und Nordamerika zu Wort meldete. 1962 hatte sich in New York unter maßgeblicher Initiative von Jonas Mekas das NAC (New American Cinema) formiert: ein zunächst lockerer Verbund von Filmemachern, die den Begriff der Subkultur wörtlich nahmen und ein eigenes System von Produktion, Verleih und Abspiel installierten. Vorleistungen wie das von Amos Vogel bereits 1947 gegründete „Cinema 16“ wurden erfolgreich gebündelt. Es bedurfte dieser Initialzündung aus Übersee, um in Europa ähnliche Aktivitäten auszulösen. In der Bundesrepublik kam es erst 1968, nach dem legendären Experimentalfilmwettbewerb in Knokke, zu vergleichbaren Gruppenbildungen. Und wohl nicht zufällig ging 1966 die Gründung der LFMC (London Film-Makers Cooperative) unter wesentlicher Mitwirkung der nach England ausgewanderten amerikanischen Filmemacher Stephen Dwoskin und Peter Gidal einher. In einigen Punkten gelang es den Wahl-Briten sogar, über das New Yorker Modell hinauszugehen; so gehörte zum LFMC bald ein eigenes Laboratorium, das durch seine technischen Möglichkeiten (optischer Printer) die Filme beeinflusste.

Vergleicht man heute die amerikanischen mit den britischen Filmen jener Phase, so fällt bei Letzteren eine Fixierung auf formale Abstraktion auf. „There can be no radical narrative film.“ Es war Malcolm LeGrice – neben Dwoskin und Gidal die dritte, wesentliche Persönlichkeit der LFMC-Gründungszeit – der diese Programmatik formulierte. Während es in den USA neben den puristischen Filmemachern wie Stan Brakhage oder Ken Jacobs auch immer eine Linie von mit erzählerischen Fragmenten und Camp-Zitaten spielenden Künstlern gab (wie Jack Smith oder die Brüder George und Mike Kuchar), überwogen in England die Formalisten. Der 1963 gedrehte Gemeinschaftsfilm von Burroughs/ Balch fällt deshalb nicht nur wegen seiner frühen Entstehungszeit aus dem Rahmen des „shoot shoot shoot“-Programms.

Die einzelnen Filmblöcke umreißen das gesamte Spektrum der filmischen Avantgarde, machen Wurzeln, Euphorien und Krisen der Bewegung nachvollziehbar. Der furios montierte Animationsfilm „Speak“ (1962) von John Latham, wie „Towers open fire!“ unter dem Kapitel „London Underground“ aufgelistet, atmet noch deutlich die Utopien des absoluten Films aus den Zwanzigerjahren. „Tautology“ von Mike Dunford („Structural / Materialist“) spiegelt elf Jahre später den Verlust der anfänglichen spielerischen Unschuld wieder, ergeht sich in einem einzigen Mantra: „a tautology is a tautology is a tautology“.

Im „Location: Duration“-Teil stehen Experimente im Mittelpunkt, die sich in Verwandtschaft zu Michael Snow und seinem berühmtesten Film „Wavelength“ (1967) der Vermessung von Raum und Zeit verschrieben haben. Die Abteilung „Intervention & Processing“ führt Beispiele für den Umgang mit dem optischen Printer vor, der unbegrenzte Möglichkeiten der Filmbearbeitung zu eröffnen schien. In den Programmen „Double Screen Films“ und „Expanded Cinema“ sind Beispiele für jene Versuche zusammengefasst, die herkömmlichen Präsentationsformen von Leinwand und Zuschauerraum zu überwinden. Am Ende der Suche nach neuen Formen des filmischen Ausdrucks stand fast zwangsläufig die Zerstörung des Bildes. Anhand der Filme lässt sich nachzeichnen, wie die diametral wirkenden Kräfte von Utopie und Autoaggression zur Sprachlosigkeit führten.

Bis zum 19. 9. im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten. Genaues Programm unter www.fdk-berlin.de

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