robin alexander über Schicksal
: Gott wohnt in Essen

Gegen den Berufswunsch Journalist spricht eigentlich nichts. Außer einem Lokalpraktikum bei der „WAZ“

Immer mehr junge Leute denken an eine Medienkarriere, ja, der Journalismus ist zu einem echten Modeberuf geworden, wie früher nur Arzt, Anwalt oder Astronaut. Und eigentlich ist es auch keine schlechte Idee, sein Leben in einer Redaktion zu fristen. Das Heben schwerer Lasten wird in der Regel nicht verlangt, und ein Computer mit Internetanschluss macht die Tage kurz. Einwände erheben nur die Eltern der Medienarbeiter in spe: Ist das denn tatsächlich ein anständiger Beruf? Ernährt das seinen Mann und seine Frau? Andererseits: Dem Wickert aus dem Fernsehen scheint es auch ganz gut zu gehen. Deshalb verfällt der Familienrat auf folgende, ganz schlechte Idee: „Mach erst einmal ein Praktikum, hier um die Ecke bei unserer Lokalzeitung!“

So ging es vor ein paar Jahren auch mir. Bei mir um die Ecke hieß damals Wanne-Eickel. Die Zeitung hieß und heißt Westdeutsche Allgemeine Zeitung, kurz WAZ. Wanne-Eickel wird oft als Metapher für Provinz benutzt. Wanne-Eickel ist aber auch eine Realität. Die ist allerdings kaum besser. Auch die WAZ wird mittlerweile unter Journalisten als Metapher benutzt. Als eine Metapher der Furcht. Auch hier gilt: Die Realität ist kaum besser.

„Gute Idee: Bei uns im Lokalen kann man viel lernen“, sagt der erfreute Lokalchef, als ich mich vorstelle. Diese Begebenheit ist lange her, wer damals in der WAZ-Wanne-Eickel arbeitete, ist längst pensioniert, verzogen, befördert oder beim Spiegel, jedenfalls für die hier geschilderten Zustände von einer eventuell verärgerten Verlagsleitung nicht haftbar zu machen. Jeder Lokaljournalist wird versichern, in seiner Lokalredaktion könne man viel lernen. Für jene, die keine Chance haben, ein Praktium bei der WAZ in Wanne-Eickel zu machen, fasse ich hier kurz, aber vollständig zusammen:

1. Zitate müssen nur inhaltlich stimmen.

2. Das haben wir schon irgendwann einmal gehabt.

3. Für mich nur einen halben Löffel Zucker.

4. Und bist du noch so fleißig, wir kürzen’s dir auf dreißig (Zeilen nämlich).

5. Gott wohnt in Essen.

Essen ist eine große Stadt im Ruhrgebiet, in der früher Krupp Kanonen produzierte und damit Leid über halb Europa brachte. Heute versucht der in Essen ansässige WAZ-Konzern mit Lokaljournalismus das Gleiche. Zuerst haben die WAZ-Männer das Ruhrgebiet unter ihre eiserne Fuchtel gebracht, dann weite Teile Ostdeutschlands, dann Ungarn, Tschechien und Polen. Zurzeit stehen sie kurz vor der Einnahme Serbiens. Bei diesen Leuten und ihren dunklen Machenschaften tat ich acht Wochen mit – für ein Zeilenhonorar, das Stundenlöhne ergibt, für die sonst nur pakistanische Kinder bei schlechtem Licht Fußbälle nähen.

Hat sich das gelohnt? Unbedingt, denn dort begriff ich das Prinzip des monopolartig organisierten Lokaljournalismus: Die Redakteure sind angehalten, Kontroversen, Meinungsverschiedenheiten, Aufregung, Skandale, kurz: jede echte Nachricht zu ignorieren. Die Zeitung, die auf diese Weise entsteht, ist so langweilig, dass die Leser lieber die beigelegte Werbung des örtlichen Supermarktes studieren. Dafür zahlt der Supermarkt viel Geld. Abbestellen kann der Leser die Zeitung nicht, weil es keine andere gibt. Außerdem würden ihm nach Jahren der WAZ-Lektüre auch die Supermarktbeilage und die Todesanzeigen zum Frühstück fehlen.

Dies ist bitter schade, und niemand weiß es besser als die Redakteure: „Lokaljournalismus ist etwas für Mutige“, sagte mir einer. „Wenn du schreibst, ‚Der Präsident der USA ist ein Arschloch‘, interessiert das niemand. Schreibst du aber: ‚Der Bürgermeister ist ein Arschloch‘, steht der morgen hier und brüllt dich an.“ In Wahrheit beschwert sich der Bürgermeister natürlich bei der Zentrale in Essen, und der mutige Redakteur fragt am nächsten Morgen ängstlich die Sekretärin: „Hat Essen schon angerufen?“

Spaß macht das alles nicht. Deshalb beschreiben die Redakteure ihre Arbeit auch mit Worten, die an unangenehme Körperfunktionen erinnern. Die Seiten werden „voll gemacht“ oder „abgefüllt“. Das geht einigen Mitarbeitern so zu Herzen, dass auch sie sich regelmäßig zum späten Feierabend abfüllen.

So sind die Zustände, und sie zu beklagen hieße den Mond anheulen. Es mag sogar unvermeidlich sein, auf diese Weise einmal sein Brot bitter, aber sicher, zu verdienen. Aber falls Sie, junger Leser, in den letzten Wochen der Semesterferien ein Praktikum erwägen: Fahren Sie doch lieber ans Meer.