Der kurze Herbst des Innehaltens

Fernsehen und Gesellschaft sollten sich nach dem 11. September 2001 eigentlich grundlegend verändert haben – statt Naddel, Wussow und Elvers Sinnsuche und Religion. Dafür waren sie aber verdammt schnell wieder da – waren sie überhaupt weg?

von HEIKO DILK

Nach dem 11. September 2001 wurde die Ernsthaftigkeit entdeckt. Nichts mehr sollte sein, wie es war. Vor allem die Spaßgesellschaft sollte nun wirklich und endgültig ein Ende haben – zum wievielten Mal eigentlich? Es wurde viel geschrieben von der Rückkehr traditioneller Werte, von einer Renaissance der Sinnsuche und der Religion.

Auch die Verantwortlichen bei Fernseh- und Radiosendern entdeckten die neue Ernsthaftigkeit. Es gab Listen von Liedern, die nicht mehr gespielt werden sollten, Harald Schmidt machte zwei, „TV Total“ und „7 Tage 7 Köpfe“ eine Woche Pause. RTL verschob den Zweiteiler „Todespest“ über den Ausbruch der Pest in Köln vom November 2001 auf den März 2002. „Godzilla“ kam statt im Oktober erst im März ins Programm von Pro 7 und über New York. Filme wie „Das große Inferno“ oder „Katastrophenflug 243“ waren auch unpassend. Vox verzichtete auf die Ausstrahlung von „Erdbeben in New York“.

Medienrealität

Weil die Medien ja die Realität abbilden, muss also auch in der Gesellschaft das Bedürfnis nach ausgedachten Katastrophen, nach inszenierter Gewalt zurückgegangen sein.

Das BAT-Freizeitforschungsinstitut fand dann auch heraus, dass die Menschen sich „wieder stärker Familie und Kirche zuwenden“ würden, wie Institutsleiter Horst Opaschowski seinen „Freizeit-Monitor 2001“ interpretierte. Also nicht nur keine Gewalt im TV mehr, sondern auch keine Naddels, Elversens und Boris Beckers mehr?

Nun ja, das Fernsehverhalten hatte sich nach einer Studie der Babelsberger Film- und Fernsehhochschule seit dem 11. September nur bei einem Viertel der Befragten grundlegend geändert. Für 72 Prozent war alles beim Alten geblieben. Und wahrscheinlich dürfte bei dem mageren Viertel auch Skepsis angebracht sein. Denn die Medien bilden Realität ja nicht nur ab, sie schaffen sie auch. Wer will schon als unsensibler Klotz dastehen, wenn alle über das Ende der Spaßgesellschaft philosophieren?

Der Informationsanteil im Fernsehen hatte nach dem 11. September jedenfalls zugenommen. Die Fernsehforscher der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten (ALM) ermittelten, dass der Anteil der Fernsehpublizistik (Dokumentationen, Reportagen) bei RTL beispielsweise im Zeitraum vom 5. bis 12. November um 3 Prozent höher war als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs. Das klingt nicht besonders viel, ist jedoch angesichts der starren Programmstruktur der Privaten stattlich. Im Programm der ARD hatte sich in diesem Zeitraum im Vergleich zum Vorjahr wegen des ohnehin hohen Anteils der Fernsehpublizistik (rund 49 Prozent) quasi nichts verändert. Insgesamt habe es jedenfalls einen höheren Anteil der „harten Politik“ an der gesamten Politikberichterstattung quer durch alle Programme gegeben, sagte Joachim Trebbe von der ALM der taz.

Die Werte fürs Frühjahr 2002 sind zwar noch nicht abschließend ausgezählt, aber Trebbe erwartet keine Überraschungen. „Die Erfahrung zeigt, dass sich so was wieder recht schnell zurückentwickelt“, sagt er und verweist auf die Erfahrungen aus dem Kosovokonflikt.

Das deckt sich mit dem, was das „Projekt für Exzellenz im Journalismus“ über die Fernsehnachrichten in den USA herausgefunden hat. Die Studie heißt „Die nicht so neue Fernsehnachrichten-Landschaft“ und kommt zu dem Ergebnis, dass das Niveau von Promi-, Lifestyle und Crime-Berichterstattung wieder nahe an den Werten vom Juni vergangenen Jahres ist, nach einem ebenso starken wie kurzzeitigen Rückgang im Oktober 2001.

Konjunkturflaute

Tatsächlich hatten die Trennung der Wussows oder die Eskapaden von Boris Becker angesichts so elementarer Bedrohungen wie der durch den Anschlag kurzzeitig keine Konjunktur. Nicht lange allerdings. Kurz nach dem 11. 9. waren sie wieder da.

Wie wenig sich die Medienlandschaft in Deutschland tatsächlich verändert hat, zeigt aber noch plastischer die Berichterstattung nahezu aller Sender rund um den Jahrestag. Als wäre man in einer Zeitschleife gelandet, sind sie wieder da, die Bilder der brennenden Türme, der an ihren Fassaden explodierenden Flugzeuge, aus 400 Metern in die Tiefe stürzende Menschen, der Zusammenbruch des New Yorker Wahrzeichens, fliehende Menschen, Staub- und Rauchwolken, Panik auf den Straßen – wer braucht da eigentlich noch Katastrophenfilme?

Außerdem die Schilderung der ganz intimen Schicksale der Hinterbliebenen der Opfer vom 11. September – oder das Schicksal derjenigen, die aus den oberen Stockwerken der Türme vor den Flammen in den sicheren Tod stürzten. Wer in den vergangene Tagen viel fernsah, hat wohl schon lange nicht mehr so viele weinende Witwen, Feuerwehrmänner oder sonstige New Yorker gesehen. Apropos New Yorker. Überhaupt folgten die Reminiszenzen nicht erst am Tag der Gedenkfeiern der Trauerarbeit in den USA. Das ZDF-Programm am 10. 9. sei hier nur beispielhaft wiedergegeben: „Ein Tag in der Hölle“ (Überlebende berichten), „Tag des Terrors – 11. September“ (Untertitel: „Das Drama der Überlebenden“), „Terror, Tod und Tränen“ („Die USA im Schock“). Immerhin: Um 1.30 Uhr folgt „Im Reich der Finsternis“ über Afghanistan unter den Taliban. (Die martialische Sicht auf RTL 2: „Freedom Strike – Die Achse des Bösen“ lief am 11. 9. abends. Heute gibt es dafür was über einen tödlichen Virus (nicht Anthrax): „Agent Red – ein tödlicher Auftrag“. )

Herzschmerz

Der Grund für all die Trauer ist tragisch, das Muster aber das gleiche wie bei der Promi-Berichterstattung. Emotionalisierung und Personalisierung bestimmten die beste Sendezeit. Berichte, die Hintergründe der Anschläge begreiflich machen wollen, nach den Motiven der Täter fragen oder gar nach tieferen Ursachen des islamistischen Selbstmord-Terrorismus forschen, gab es kaum. Selbst für Reportagen, die zur Abwechslung mal Afghanistan ein Jahr nach den Anschlägen zeigten, musste man eben entweder sehr lange wach bleiben oder einen Blick ins Arte-Programm riskieren.

Am 11. 9. 2002 nachmittags schalteten sich ARD, ZDF und Phoenix zur Trauerfeier bei Ground Zero oder im Pentagon. Dudelsack spielende Männer ziehen zum Ort der Feier, Priester sprechen, Korrespondenten kommentieren. Königliche Hochzeiten folgen der gleichen Dramaturgie, nur der Ton ist ein anderer.