: Last Exit Wolfratshausen
Komm auch Du mit in den Gewerbepark! – Mit Edmund Stoibers Wahlkampfslogan von „Laptop und Lederhose“ erlebt eine Gründungslegende der alten Bundesrepublik ihre Neuauflage. Doch liegt die Zukunft Deutschlands wirklich in der Provinz?
von KOLJA MENSING
Wolfratshausen ist eine moderne Kleinstadt. Es gibt einen Quelle-Shop, einen Aldi und ein Autohaus und in der Nähe des Bahnhofs einen Döner-Imbiss. Die Geschäftsstelle der Sparkasse ist in einem Betonbau untergebracht, und die beiden Säle des „Kinocenters“ heißen „Sunrise“ und „Sunset“. Nur eines quält die bayerische Stadt und ihre Einwohner – der Verkehr, der sich trotz der nahe gelegenen Autobahn durch die Altstadt bewegt. Doch die örtliche CSU hat bereits eine „Expertenrunde“ eingerichtet, die dem Problem mit einem Zebrastreifen und vielen neuen Parkplätzen begegnen will. Die Lebensqualität, sagen die Politiker, soll Wolfratshausen auch in Zukunft erhalten bleiben.
Es geht also um die Zukunft. Auf ihrer Homepage wirbt die Stadtverwaltung für den attraktiv gelegenen „Gewerbepark An der Loisach“ und die Ansiedlung von „intelligenten Dienstleistungen einschließlich Telearbeitsplätzen“ inmitten der malerischen Landschaft. Das ist es, was Edmund Stoiber mit seinem Slogan von „Laptop und Lederhose“ meint. Bemerkenswert ist, dass Stoiber, der in Wolfratshausen mit seiner Frau eine Doppelhaushälfte bewohnt, damit an eine Vorstellung appelliert, von der man sich eigentlich mit der Wiedervereinigung verabschiedet hatte: Die Zukunft Deutschlands liegt in der Provinz – das ist die Gründungslegende der alten Bundesrepublik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, der unmittelbar mit der damaligen Reichshauptstadt Berlin verbunden war, suchte man den Nährboden für einen Neuanfang in der Provinz. Konrad Adenauer machte unter den zufriedenen Blicken der Alliierten nicht die Bankenmetropole Frankfurt, sondern das beschauliche Bonn zum Regierungssitz der Bundesrepublik.
Die Angst vor neuen Bombenangriffen und die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben im Grünen führten dazu, dass sich die Provinz in der Nachkriegszeit zum bevorzugten Lebensraum der bundesrepublikanischen Gesellschaft entwickelte. Immer mehr Familien konnten sich ein Auto leisten, sodass das Leben abseits der Städte nicht mehr gleichbedeutend mit einem Schritt in die Abgeschiedenheit und Einsamkeit war – und mit dem legendären Paragrafen 7 b des Einkommensteuergesetzes, der erhöhte Abschreibungen beim Wohnungsbau versprach, begann der Boom der Einfamilienhaussiedlungen.
Ein Sammelband dokumentierte das neue Selbstbewusstsein: „Die Provinz – Kritik einer Lebensform“, 1964 herausgegeben von Carl Amery, zeichnete ein Bild blühender Landschaften. Die Autoren entdeckten „moderne Kirchen und Schulen, großzügige Umgehungsstraßen, neue Fabrikationsstätten und Wohnsiedlungen, Fremdenverkehrsbüros und Tagungshotels“ und stellten befriedigt fest, dass in den Randlagen der Bundesrepublik Kultur und Wissenschaft prächtig gediehen – genau wie der Handel: „Auf dem Lande besteht mehr und mehr ein schwer zu beschreibendes Kraftfeld, aus dem die Wirtschaft ständig neue Impulse empfängt.“ Edmund Stoiber hätte es nicht besser sagen können.
Die Provinz wurde zum Gelobten Land des neuen bundesrepublikanischen Mittelstandes. In den Siebzigerjahren jedoch verwandelte sie sich kurzfristig zur Spielwiese anderer, revolutionärer Gesellschaftsentwürfe. In den selbst verwalteten Jugendzentren in den Dörfern und Kleinstädten und auf den in alten Bauernhöfen untergebrachten Landkommunen wurde nun die romantische Vorstellung einer „inneren Provinz“ gepflegt. Hier, jenseits der großen Städte, glaubte man, das wahre Leben inmitten des falschen leben zu können, und hoffte zugleich auf die Erneuerung der Gesellschaft vom Rande aus. So träumte Ernst Bloch 1975 im „Kursbuch Provinz“ von der „Verschmelzung von Phantasie und Marxismus“ auf dem Lande.
Der utopische Zuwachs, den die Dörfer und Kleinstädte erlebten, führte zwar nicht zu einer Revolution. Dafür kam es jedoch zu einem ganzen Bündel verschiedener Anstrengungen, die in den Achtzigerjahren die deutsche Provinz endgültig zu einem zukunftsfähigen Modell machen sollten.
Die Achtundsechziger richteten sich fest in den Schuldirektionen und Lokalzeitungsredaktionen, Kommunalparlamenten und Pastorenhäusern ein, und die Kommunarden der Siebzigerjahre eröffneten, nachdem sie lange genug mit Drogen und makrobiotischen Diäten experimentiert hatten, ihre Töpferstuben und Naturkostläden. Engagierte Geschichtslehrer sorgten dafür, dass auch die kleinste Kolonistensiedlung noch ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufarbeitete. Die Altnazis, deren Rückzugsgebiet man in der Provinz zuweilen sehen wollte, starben dagegen langsam aus.
Die neuen Einfamilienhäuser waren „ökologisch“ und „kinderfreundlich“ gebaut. Die Behörden überwachten mit strengem Blick die Entsorgung des Mülls, und Felder und Weiden, die früher großzügig mit Kunstdünger bestreut und mit Pestiziden getränkt worden waren, wurden immer häufiger umweltverträglich bewirtschaftet. Beinahe jedes Dorf hatte nun sein Jugendzentrum. Das Freizeitangebot zwischen Sportvereinen und Kreativ-Workshops, Volkshochschulen und kirchlichen Bildungseinrichtungen war stetig gewachsen. Multiplexe und Fitnessstudios erfüllten die Ansprüche der Freizeitgesellschaft.
Ende der Achtzigerjahre präsentierte die Bundesrepublik sich in der Provinz – zumindest wenn man nicht allzu genau hinsah – tatsächlich als freundliches, weltoffenes und zukunftsorientiertes Land. Doch dann wurde alles anders. Mit dem Fall der Mauer wuchs die Sehnsucht nach einem neuen Gründungsmythos. Das wiedervereinigte Deutschland wollte seine Zukunft in Berlin finden. Auf Wiedersehen, Provinz.
Berlin wurde zur Projektionsfläche für urbane Fantasien. Plötzlich wollte man nicht mehr im bescheidenen Bonn, sondern ausgerechnet in der ehemaligen Reichshauptstadt die „Normalität“ erkennen, der sich die Bundesrepublik angesichts der deutschen Geschichte stets verweigert hatte. Gerne erinnerte man sich an die „goldenen Zwanziger“, als Deutschland mit Berlin genau wie Frankreich mit Paris einen schillernden Gegenpol zur Provinz besessen hatte. Die Zukunft lag nicht in der Vergangenheit, sondern vor allem in der Gegenwart: In der öffentlichen Wahrnehmung wurde Berlin zur Stadt der jugendlichen Existenzgründer, eine Brutstätte für Werber, Webdesigner und andere Kreative. „Berliner Republik“ und „Generation Berlin“ waren die Schlagwörter der Epoche. Doch die Provinz gab sich nicht geschlagen. Das Hinterland rückte nach.
Georg Simmel hatte in seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ geschrieben, dass das „bedeutsamste Wesen“ der Stadt darin liege, über ihre Grenzen hinauszureichen: Sie entstehe „erst aus der Gesamtheit der über ihre Unmittelbarkeit hinausreichenden Wirkungen“. Ende der Neunzigerjahre, am Ende des langen Berliner Jahrzehnts, war es die Provinz, deren Wirkungen weit über sich selbst hinausreichten. Die Love Parade zum Beispiel, die einst aus dem Drang der städtisch geprägten Technoszene zur Selbstdarstellung entstanden war, hatte sich zum zentralen Schützenfest der Nation gewandelt, zu dem ein Großteil der Gäste mit Sonderzügen aus Bamberg, Stade oder Dürfen anreiste. Wenn die neue Mitte zu einer Gala auf den Potsdamer Platz lud, dann stammte der Tennisstar, um den sich die Fotografen scharten, aus Leimen – und die Schauspielerin, die vor einigen Jahren noch durch Berlin gelaufen war, wurde inzwischen zwar direkt aus Hollywood eingeflogen, doch in ihrem Pass stand als Geburtsort immer noch Dülmen. Und der Kanzler kam aus Hannover.
Mit Gerhard Schröder ist die familienfreundliche, auf „Nachhaltigkeit“ bedachte und von historischen Altlasten befreite westdeutsche Provinz der Achtzigerjahre nach Berlin ins Regierungsviertel eingezogen. Auch hier konnte man nun den alle gesellschaftlichen Umbrüche überdauernden Duft nach Holzkohle, Bier und frisch gemähtem Rasen erschnuppern. Die Berliner Republik ist die Berliner Provinz: Schröder liefert Stefan Raab die Zeilen für seine Grillparty-Hits und lädt seine Wirtschaftsberater gerne auch mal zusammen mit Deutschlands wichtigsten Unternehmern zu Bratwurst und Kartoffelsalat auf die Terrasse des Kanzleramtes.
Gleichzeitig wird die Provinz mit jedem neuen Gewerbegebiet und jeder neuen Fußgängerzone immer mehr zur Stadt. Deichmann, Rossmann und Fielmann, Lidl, real und Aldi: Die unendliche Reihe der Werbetafeln und Sonderangebote zieht sich von den Shopping Malls der großen Städte bis in die Einkaufsparks auf dem Land, und nachts beleuchteten die Neonreklamen der „International“-Grillstuben, „Blockbuster“-Videotheken und „Sun Island“-Sonnenstudios die Straßenzüge in Berlin genauso wie in Bückeburg.
Auch wenn Edmund Stoiber nun an den Gründergeist der Bundesrepublik appelliert: Die glänzende Oberfläche der Provinz, in der sich früher einmal die Zukunft Deutschlands spiegeln sollte, ist stumpf geworden. Hier trägt man Jogginganzüge statt Business Suits, und statt Existenzgründerdarlehen zu beantragen, führt man lieber seinen Kampfhund spazieren. Die Multiplexe, Hochregallager und Wellness-Center warten darauf, in der nächsten Rezession zu Ruinen des spätkapitalistischen Zeitalters zu werden, während in den standortunabhängigen Call-Centern, die die Stadtverwaltung von Wolfratshausen so gerne in ihrem „Gewerbepark“ ansiedeln würde, das neue Billiglohn-Proletariat ohne Urlaubsanspruch und soziale Absicherung Überstunden macht. Herzlich willkommen in der Zukunft.
Im Gegensatz zu Edmund Stoiber hat Gerhard Schröder – davon konnte man sich nicht nur bei seinen Besuchen in Kleingartenanlagen überzeugen – immerhin einen sicheren Blick für diese moderne Provinz. Er hätte in Wolfratshausen am Bahnhof längst einen Döner gegessen.
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