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Alltägliche Staatsangelegenheiten

Bürgerkrieg und Kulturrevolution auf dem Lande: Yu Hua knüpfte mit seinem Roman „Leben“ an die Renaissance der chinesischen Heimatliteratur an. Heute und morgen ist der Autor zu Gast auf dem Internationalen Literaturfestival

Sein berühmtester Roman „Leben“, der vor zehn Jahren in China und vor vier Jahren in Deutschland erschien, ist autobiografisch inspiriert. Wie der junge Erzähler, der irgendwann in den Achtzigerjahren über Land zieht und bäuerliche Volksdichtung sammelt, so hat auch der chinesische Autor Yu Hua Geschichten und Lieder der Leute aus dem Dorf notiert, in dem er aufgewachsen ist und lange gelebt hat. Ob der alte Bauer, dem der Erzähler eines Tages begegnet, ein reales Vorbild hat, ist dabei unwichtig. Auch wenn es diesen Bauern nicht wirklich geben mag, scheint Yu Hua seinen Leuten so lange auf den Mund geschaut zu haben, dass seine Figur fast greifbar wird.

Was der Bauer Fugui dem jungen Erzähler in „Leben“ erzählt, hat mit Folklore nämlich wenig zu tun. Statt idyllischer Dorfprosa berichtet er ihm in einfachen, eindrücklichen Worten sein ganzes Leben. Wie in einem Stück Oral History, wo Geschichte durch den Filter des Alltags erst anschaulich wird, erzählt Fugui langsam und lakonisch, wie er als verwöhnter Sohn eines Großgrundbesitzers aufwächst, eines Tages sein ganzes Geld verspielt und fortan seine Familie als armer Pächter durchbringen muss.

In den späten Vierzigerjahren wird er von den Kuomintang-Truppen verschleppt. Das ist die Söldnerarmee unter Maos Gegner Tschiang Kai-schek, der China etwas zu verkaufen versuchte, mit dem es nichts anzufangen wusste – das wird deutlich in der Figur des armen Bauern, der mit den Guomindang für etwas kämpfen soll, das er nicht einmal zu verstehen versucht. – Irgendwo im Norden Chinas wird Fuguis Kompanie von Maos Truppen eingekesselt, ein unmenschlicher Überlebenskampf beginnt, und nach und nach schlachten Maos Truppen die Guomindang bestialisch ab.

Fugui aber überlebt und wird nach Hause geschickt. Dort angekommen kann er froh sein, nicht mehr Großgrundbesitzer zu sein – als ehemaliger Pächter bekommt er im Zuge der Bodenreform Land zugewiesen, während sein ehemaliger Herr erschossen wird. Die „wichtigen Staatsangelegenheiten“ indes, wie er sie nennt, ziehen zunehmend an ihm vorbei wie durch Milchglas. Viel zu sehr ist er damit beschäftigt, seine Familie über Wasser zu halten. Und je weniger er sich für sie interessiert, desto ungeheuerlicher erscheinen die Ursachen seines Leidens.

Ende der Fünfzigerjahre werden Volkskommunen gegründet und der Brigadeleiter ist dumm genug, schon in den ersten Wochen alles Vieh für die Volksküche schlachten zu lassen. Das Dorf schlittert in eine Hungersnot, von der sich Fuguis Frau nicht wieder erholen wird. Überhaupt trifft ihn das Schicksal mit der Zeit immer härter. Zuletzt verliert er auch seine beiden Kinder, so dass ihn Ende der Sechzigerjahre nicht einmal die Kulturrevolution berührt.

Mit der Geschichte des Bauers Fugui, deren in Cannes ausgezeichnete Verfilmung anders als das Buch in China der Zensur zum Opfer fiel, knüpft Yu Hua, Jahrgang 1960, an die Renaissance einer chinesischen Heimatliteratur an. Mit dieser stellen Autoren seit den Achtzigerjahren dar, wie die wirtschaftlichen und politischen Reformen in China auf dem Land ankamen – wie willkürlich und haltlos sie auf seine Bewohner gewirkt haben müssen.

Viele dieser Autoren, darunter Yu Hua, schließen damit an sozialkritische Traditionen einer chinesischen Dorfprosa aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren an, ohne sich aber allzu sehr für politische Doktrinen zu interessieren. Vielmehr geht es ihnen um die Macht des wirklichen Lebens, die Schwierigkeiten des Alltags irgendwo in der chinesischen Provinz, wo die fatalsten geschichtlichen Umwälzungen vielleicht nur in sehr verdünnter Form, dafür aber um so grotesker durchgesickert sind.

SUSANNE MESSMER

Heute Abend, 19 Uhr, ist Yu Hua bei der Aufführung des Films „Leben“ anwesend, Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Mitte. Morgen Abend, 20 Uhr, liest er aus seinem Roman „Leben“, im BE, Alte Probebühne, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte

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