: Börsenspekulationen sind eine Frage von Sekunden
Realtime-Aktion mit Aktien
Warum sind Kleinaktionäre eigentlich so friedlich? Im süddeutschen Raum soll es Scharen von Weinbauern geben, die sich teuer mit EM.TV-Aktien eingedeckt haben oder die auf die Flowtex-Leute reingefallen sind, mit ihren nicht existenten „Horizontalbohrern“. Einige der Pleitiers – die ihr Leben lang für ihr Geld gebuckelt haben – begehen Selbstmord. Florian Haffa von EM.TV – spätestens als er die Produzenten der Muppets Show für irre Summen aufkaufte, war mir dessen geschäftlicher Irrsinn klar – hat bei Höchstkursen Aktien verkauft und seine zweistelligen Gewinne mit der Zukunftssicherung für seine Familie begründet. Traut sich denn keiner, dem Sesamstraßenkäufer wenigstens die Yacht zu versenken?
Ein komischer Faktor des Spekulierens ist die Zeit. Online kann ich in wenigen Sekunden mein gesamtes Kapital anlegen und beobachten, wie es weniger wird. Bei meinem Online-Broker kann ich wiederum in „Echtzeit“ Kurse abrufen. Für dieses Privileg muss ich extra zahlen: Jeder Klick auf den Realtime-Kurs von Infineon kostet mich eine Webmeile, wenn ich Aktien kaufe (zum Mindestpreis von 8,70 Euro oder 0,21 Prozent des Handelsvolumens), bekomme ich Meilen gutgeschrieben. Wer weiß, wie viele Abgeordnete Bonus-Echtzeitmeilen haben.
Merkwürdig ist die Heimlichtuerei mit der Echtzeit. Warum die Börsen in Europa wie auch in New York nur Kurse mit 15 bis 20 Minuten Verzögerung anbieten, ist mir unklar. Toll wären falsch gehende öffentliche Uhren in Börsensälen. Verschwörungstheoretiker gehen davon aus, dass einige eben schneller sein wollen als die Masse der Kleinaktionäre. Am 11. September können diese 20 Minuten durchaus viele Prozent ausgemacht haben. Oder Milliarden. Eine Webcam vor der Tafel in Frankfurt ist bei Spiegel-Online zu sehen, aber auch nur mit einigen Minuten Verzögerung. Die Kurse bei Fernsehsendern wie n-tv und N 24 auf den eingeblendeten Zahlenbändern sind Realtime. Im Videotext wiederum existiert die Viertelstunde Verzögerung.
Der Zeitfaktor ist schwer beherrschbar. Natürlich kann ein Zwanzigjähriger den Kurs der Telekom aussitzen. Wenn er vor zwei Jahren gekauft hat, wird er jedoch vielleicht auch in 50 Jahren sein Geld nicht wieder heraushaben. Besonders unter Zeitdruck aber stehen Optionsscheinhändler. Diese Zettel geben einem das Recht, eine Aktie zu einem bestimmten Kurs zu erwerben. Gefährlich daran: die Scheine sind zeitlich begrenzt, es gibt sogar welche mit eingebautem „Knock-out-Faktor“. Das bedeutet, dass der Schein automatisch wertlos wird, wenn der Kurs einer Aktie auch nur einmal – vielleicht eine Sekunde? – unter ein bestimmtes Limit fällt. Deshalb gehen kurze Nickerchen und Optionsscheine nicht gut zusammen. Besonders blöd dran waren Leute, deren Onlinebroker letztes Jahr Pleite gemacht hat. Die konnten mehrere Tage nicht an ihre Konten und handeln. Wenn so genannter dreifacher Hexensabbat ist, gern auch an „schwarzen“ Freitagen, versuchen Optionsbesitzer die Kurse der Aktien zu manipulieren, da das billiger ist als wertlose Optionsscheine. Die Fehleingabe eines Dax-Optionshändlers löste vor einigen Monaten einen kurzen Kurssturz beim Dax selbst aus. Der Typ hatte einfach ein paar Nullen zu viel eingetippt. Mit einem solchen Fehler, absichtlich ausgelöst, könnte man wiederum Leute mit Knock-out-Faktor prima aus dem Markt werfen.
Lustig sind auch Wetten auf die „Zukunft“. Tag und Nacht werden die Futures auf allen möglichen Indexen gehandelt. Morgens bei uns zum Beispiel gelten die Futures auf Nasdaq, S & P und Dow als nicht sehr aussagekräftig, weil zu dieser Zeit in den USA viele angeblich schlafen. Wenn die Amis langsam quer durchs Land und die Zeitzonen aufwachen, gelten die Futures als genauer. Komischerweise werden auch Futures auf die Gegenwart gehandelt, so kann der aktuelle Nasdaq im Plus sein, sein Future aber im Minus. Wann die Zukunft beginnt, ist auch hier streng geheim. Zukunft realtime empfangen nur eine Hand voll Broker weltweit. Und was wohl aus den einst so bewunderten Daytradern wurde, sind die alle pleite? Nutze den Tag – aber nicht zum Handeln, müsste man Aktienbesitzern raten, denn die meisten Trades gehen natürlich in die Hose.
In der Schule dagegen sollte mehr über den Unterschied von Geld und Kapital geredet werden. Wer selber arbeitet, anstatt sein Geld arbeiten zu lassen, sollte spätestens dann wissen, was Kapital bedeutet. Mit Zinsen rechnen können auch kaum Leute. Dass man bei einem Bundeswertpapier in zehn Jahren bei einem Zinssatz von 9 Prozent (gab’s zuletzt Anfang 1991) fast verdoppeln kann, glauben nicht nur Aktiensüchtige nicht. Lassen Sie sich die Freude am Handeln nicht verderben, hieß es öfter auf n-tv. Komisch, dass diese Handel in den vergangenen zwei Jahren meine Gewinne und meinen Einsatz komplett aufgebraucht haben. Das Geld ist aber zum Glück nicht „vernichtet“, es lagert in einem BMW Z3 von Florian Haffa und Konsorten. ANDREAS BECKER
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