Koizumis Balanceakt in Nordkorea

Erstmals will heute ein japanischer Regierungschef für wenige Stunden nach Nordkorea reisen. Doch damit Tokio und Pjöngjang ihre Beziehungen normalisieren können, muss der Streit über nach Nordkorea entführte Japaner gelöst werden

aus Tokio ANDRÉ KUNZ

Shigeru und Sakie Yokota haben lange darauf gewartet, dass ein japanischer Ministerpräsident den ersten offiziellen Besuch in Nordkorea ankündigt. Die Eltern von Megumi Yokota hoffen endlich, Näheres über ihre seit 25 Jahren verschollene Tochter zu erfahren. Am 15. November 1977 ging die damals 13-jährige zum Federball-Training und kehrte nie mehr zurück. „Wir suchten mit Verwandten und Bekannten und später mit der Polizei die ganze Küste ab. Ergebnislos!“, erzählt Mutter Sakie der taz. Sie vernahm erst vor fünf Jahren, dass ihre Tochter möglicherweise in Nordkorea lebt.

Die Yokotas zählen zu über 50 Elternpaaren, die in der „Vereinigung für Familien von entführten Japanern nach Nordkorea“ organisiert sind. Wenn Junichiro Koizumi heute als erster Ministerpräsident Japans nach Pjöngjang reist, um mit Nordkoreas Führer Kim Jong Il über eine Normalisierung der Beziehungen beider Staaten zu beraten, stehen die entführten Japaner ganz oben auf seiner Tagesordnung. „Es ist eine emotionsgeladene Frage, die in den Augen der Japaner über den Erfolg des Koizumi Besuchs entscheidet“, meint Tadashi Kimiya, Koreaexperte von Japans zweitgrößter Zeitung Asahi Shimbun.

Koizumi hat versichert, dass er von Kim Informationen über elf vermisste JapanerInnen verlangen will. In diesen Fällen glaubt die Regierung Beweise über die Verschleppung zu haben, die von nach Südkorea übergelaufenen nordkoreanischen Agenten stammen. Für die Yokotas ist der Spion Ahn Myong-jin der Kronzeuge. Er berichtete ihnen vor fünf Jahren, dass ihre Tochter an Pjöngjangs Kim-Il-Sung-Universität in der Abteilung Nachrichtendienst Japanisch unterrichtet habe.

„Er beschrieb uns ganz typische Merkmale, sodass wir sicher sind, dass es Megumi war“, sagt Mutter Sakie. Sie hofft nun, dass Koizumi genaue Angaben erhält. Teruaki Masumoto, dessen Schwester als 24-Jährige angeblich von Nordkoreanern im Süden des Landes verschleppt wurde, ist weniger optimistisch. „Das Außenministerium hat in den vergangenen Jahren kaum etwas für eine zügige Lösung der Frage der Entführten getan. Ich befürchte, dass die Regierung eine Normalisierung der Beziehungen ohne konkrete Informationen zu den Entführten anstreben könnte“, sagt der Vizepräsident der Elternvereinigung.

Skeptisch ist auch der Koreaexperte Masao Okonogi von Tokios Keio-Universität: Koizumi sei mit der Nordkoreafrage kaum vertraut, habe bisher außenpolitisch wenig geglänzt und könnte deshalb in Pjongjang eine Lösung suchen, die nach schnellem Durchbruch aussehe.

Aus Rücksicht auf die USA, die Nordkorea mit Irak und Iran zur „Achse des Bösen“ zählen, muss Koizumi in Pjöngjang mit Kim Jong Il sicherheitspolitische Fragen erörtern. Koizumi sagte nach seinem Treffen mit George W. Bush am Freitag, dass er im US-Auftrag auf eine internationale Kontrolle der angeblich seit 1993 stillgelegten Nuklearanlagen pochen will. Der US-Geheimdienst vermutet, dass Pjöngjang genug angereichertes Plutonium besitzt, um mindestens eine Atombombe herzustellen.

Gemäss Japans größter Zeitung Yomiuri Shimbun soll die US-Regierung Koizumi auch gebeten haben, Nahrungsmittelhilfe nur gegen sicherheitspolitische Zusagen zu geben. Tokio betrachtet auch Pjöngjangs Raketenentwicklung und -tests als Bedrohung. Vor vier Jahren schoss Nordkorea eine Langstreckenrakete über Japans Hauptinsel und erschreckte die Bevölkerung. Seitdem ist Tokio einer der stärksten Befürworter des satellitengestützten Raketenabwehrsystems TMD, das Japan mit den USA in Nordostasien aufbauen möchte.