Wie Nixon, der nach China ging

Unter Rot-Grün hat Deutschland eine neue weltpolitische Rolle übernommen. AusSicht der USA war vor allem die Solidarität nach dem 11. September bemerkenswert

Die Wandlung Deutschlands hat viel mit dem Erfolg des AußenministersFischer zu tun

Nach den Wahlen im Herbst 1998 blickte Washington verunsichert auf die rot-grüne Koalition in der Bundesrepublik. Viele wussten nicht recht, was sie von einem grünen Außenminister und einem relativ unbekannten Kanzler halten sollten. Doch hat die rot-grüne Regierung in den vergangenen vier Jahren sowohl Deutschlands Rolle auf der Weltbühne historisch verändert wie auch die politische Kultur des Landes beeinflusst.

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen waren in den letzten vier Jahren in erster Linie von Fragen der Außenpolitik und internationalen Aufgaben geprägt, denen sich beide Länder gegenübersahen – einige konnten die Beziehung festigen, andere drohen zu einer ernsten Belastung zu werden.

In den ersten beiden Jahren der Legislaturperiode versuchte die neue Regierung in Berlin, zusammen mit der Clinton-Regierung Ideen über fortschrittliches Regieren zu formulieren. Im Juni 2000 begrüßte Gerhard Schröder Bill Clinton und seine sozialdemokratischen Amtskollegen aus ganz Europa zu Gesprächen und überreichte dem amerikanischen Präsidenten in Aachen den Karlspreis für seine Beiträge zu den europäisch-amerikanischen Beziehungen. In ihren Auswirkungen auf den deutsch-amerikanischen Dialog blieben solche Gespräche und Gesten aber eher an der Oberfläche. Wichtiger waren die Fortschritte dieses Dialoges bei der Erweiterung der Nato, der Zusammenarbeit im Krieg auf dem Balkan sowie den dortigen Truppenstationierungen, der Reform und Erweiterung der Europäischen Union, der Zukunft der Beziehungen zu Russland sowie der anhaltenden Krise im Nahen Osten. Es schien, als beteilige sich Deutschland an jeder dieser Aufgaben in einer führenden Rolle und nehme an Gewicht als Partner der USA in Europa zu.

Es bestanden zwar auch während der Präsidentschaft Clintons durchaus Differenzen in Zusammenhang mit der Umweltpolitik, den Handelsbeziehungen, dem ABM-Vertrag und dem Internationalen Strafgerichtshof. Doch die ersten acht Monate der Regierung von George W. Bush schienen den Deutschen einigen Anlass zu geben, mit Sehnsucht der Zeiten mit ihrem Freund Bill Clinton zu gedenken. Außenminister Fischer gab sich zwar überzeugt, er könne mit Colin Powell ebenso gut zusammenarbeiten wie mit dessen Vorgängerin Madeleine Albright – jedoch verkörperten George W. Bush und seine Kabinettsmitglieder einen solch einschneidenden Wandel in Substanz und Stil der amerikanischen Politik, dass die Debatten mit dem neuen Team in Washington über Raketenverteidigung, Landminen und andere umstrittene Punkte in Berlin zunehmend Kopfschmerzen auslösten.

Dann kam der 11. September. Die Deutschen reagierten auf die Angriffe in den USA mit wahrhaftigen Mitleidsbekundungen. Überaus deutlich versicherten sie den USA ihre „unbegrenzte Solidarität“ im Kampf gegen den Terrorismus. Das wurde in Washington deutlich wahrgenommen und respektiert. Genau wurde beobachtet, wie energisch die Schröder-Regierung die Verfolgung terroristischer Zellen, die die Angriffe von Deutschland aus geplant hatten, in Angriff nahm. Auch dass sich die Deutschen an den Bemühungen beteiligten, die finanziellen Netze Bin Ladens aufzuspüren, wurde durchaus zur Kenntnis genommen. Besonders honoriert wurde dem Kanzler Schröder, dass er gegen den heftigen Widerstand in den eigenen Reihen Bundeswehrtruppen nach Afghanistan und ans Horn von Afrika entsandte und damit sogar seine Regierung gefährdete. Aus Washingtons Sicht war all das eine eindrucksvolle Demonstration der Solidarität.

Mit der Entsendung der Bundeswehr nach Afghanistan unterhielt Deutschland mehr Truppen außerhalb des eigenen Landes als jedes andere europäische Land. Noch vor acht Jahren war sich die Bundesrepublik nicht einmal sicher, ob es derartige Maßnahmen überhaupt mit seiner Verfassung vereinbaren könne. Diese Wandlung hat viel mit dem Erfolg des Außenministers Joschka Fischer zu tun, dem es gelang, nicht nur seine eigene Partei, sondern auch die gesamte Nation zu einem neuen Verständnis der deutschen Rolle in der Welt zu bewegen. Die Tatsache, dass die Regierung Probleme in der Haushaltskonsolidierung hatte und infolgedessen in Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Bundeswehr geriet, galt der Bush-Administration als anhaltend schwacher Punkt in der deutschen Bilanz.

Die rot-grüne Regierung musste sich im Januar 2001 auf signifikante Veränderungen in Washington einstellen und sich zudem mit den globalen Auswirkungen des 11. September auseinander setzen – unter diesen Umständen betrachtet, ist sie in ihren Beziehungen über den Atlantik recht gut gefahren.

Zurzeit besteht zwischen der Bundesregierung und der Bush-Administration eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Irakpolitik der USA. Das hat ebenso viel mit realen strategischen Differenzen zu tun wie mit den Wahlkämpfen in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Die Überbrückung der strategischen Differenzen wird angesichts des drohenden Krieges keine leichte Aufgabe sein. Wenn Gerhard Schröder Kanzler bleibt, wird es nicht unproblematisch werden, die in den letzten Wochen durch die Rhetorik des Kanzleramtes und des Weißen Hauses ausgelöste Verstimmung zu beheben. Aber letzten Endes besteht niemals eine wirkliche Alternative zum Dialog, und beide Seiten wissen, dass viel auf dem Spiel steht.

Die ersten Monateder Bush-Regierung gaben den Deutschen Anlass, sehnsüchtig an Clinton zu denken

Einige behaupten, die Veränderungen, die Deutschland in den letzten vier Jahren durchlaufen habe, wären unter einer konservativen Regierung sehr viel schwieriger durchzuführen gewesen, und sehen die umgekehrte Version des „Nixon-geht-nach-China-Syndroms“, das besagt, dass vor drei Jahrzehnten nur ein konservativer Präsident wieder die Beziehungen zur Volksrepublik China aufnehmen konnte. Sie argumentieren, nur eine Regierung links der Mitte habe Deutschland dazu führen können, eine so deutlich stärkere internationale Rolle zu übernehmen, ohne sich im Bundestag und auf der Straße mit einer größeren Opposition auseinander setzen zu müssen – wie noch vor zwanzig Jahren, als viele von denen, die jetzt in der Regierung sitzen, sich an den Demonstrationen gegen Pershings und Cruise Missiles beteiligten.

Auch ohne solche Überlegungen ist das Deutschland von 2002 ein anderes Land, als es noch vor weniger als zehn Jahren, vielleicht noch vor vier Jahren gewesen ist. Zwar sind die notwendigen Reformen des verkrusteten Sozialstaates und des Steuersystems noch nicht genügend energisch in Angriff genommen worden. Aber das Land hat große Schritte auf dem Weg zu einer Neugestaltung der Parameter seiner Außenpolitik unternommen. Vielleicht gehört das zu den bleibenden Überraschungen und den tatsächlich wichtigsten Leistungen der rot-grünen Regierung. Die Frage ist nun, wie ihr künftiger Weg aussieht, wenn sie am Sonntag die Möglichkeit bekommt, weiter zu regieren. JACKSON JANES