berliner szenen Letzte Ausfahrt Wahl

Eine Minute später

Die Hölle ist nicht gerade los in der Christburger Straße an diesem trüben Sonntagvormittag, ganz in Ruhe und ohne zu warten kann man in der Freien Evangelischen Schule seine Kreuzchen machen. Bestimmend sind dabei wieder einmal zwei für Wahltage typische Empfindungen. Zum einen bieten die meist in Schulen gelegenen Wahllokale die Möglichkeit, Erinnerungen aufzufrischen an die eigene Schulzeit. Diese öden langen Schulgänge, diese Tristesse der einzelnen Räume mitsamt dem abgerockten Mobiliar! Das einem das seinerzeit nicht aufs Gemüt geschlagen ist.

Zum anderen holt diese überaus nüchterne Atmosphäre auch immer wieder in die Realität zurück. Was war das doch für ein Spektakel die letzten Wochen: die große Flut, Saddam Hussein, George W.Bush, TV-Duelle, Hitlervergleiche – alles im Zeichen der Wahl, als ginge es um Sein oder Nichtsein und nicht nur um Schröder oder Stoiber. Und dann marschiert man in den Raum 285, zeigt seinen Personalausweis, bekommt einen Wahlzettel, macht seine beiden Kreuzchen, steckt den Zettel in einen Karton mit Schlitz – alles eine Sache von ein paar Minuten. Zack, bumms, aus, das war es, ganz unspektakulär. Kurz hat man das Gefühl, richtig was geleistet zu haben, auch ein Gefühl von Wichtigkeit, ja, endlich mal wieder Teil einer großen Gemeinschaft zu sein (vielleicht so wie in den frühen Achtzigern auf einer Demo). Das aber legt sich schnell, spätestens um 18 Uhr vorm Fernseher, wenn die Prognose kommt und die Politikersprechlawine mit ihren Danksagungen und Wir-haben-einen-tollen-Wahlkampf-geführt-Reden anrollt. Bonjour, Tristesse heißt es dann wieder auf dem Sofa. There must be a better life. Doch wehe es gibt eine Ampelkoalition! GERRIT BARTELS