„Innere Emigration“ und Exil

Die Beiträge einer Hamburger Tagung zu „jungen Autoren“ in der Nachkriegsliteratur im Juni 2001 versammelt jetzt der gerade erschienene Band „Uns selbst mussten wir misstrauen“

Die getrennte Erinnerung von nicht jüdischen und jüdischen Autoren wäre stärker zu akzentuieren gewesen.

von WILFRIED WEINKE

Das „literarische Feld“ Hamburgs im 20. Jahrhundert scheint abgesteckt und vermessen zu sein. Ausführliche Studien zur literarischen Kultur nach 1945 liegen vor (vgl. taz hamburg, 2.8.1999). In den Hamburger Kammerspielen wurden und werden in gut besuchten Matineen „Dichter in Hamburg“ vorgestellt; vor zwei Jahren erschien das Buch zur gleichnamigen Lese-Reihe. Und ein Autor wie Kai-Uwe Scholz (ver-)führt geneigte Leser mit einem gedruckten „Dichter und Denker Stadtplan“ in „Hamburgs Topographie des Geistes“. (Literarisches Hamburg,Verlag Jena 1800).

Wenn auch nicht jederzeit erkennbar ist, wo in Hamburg sich dieser Geist gerade aufhält, Hort geisteswissenschaftlicher Betätigung ist gewiss die Hamburger Universität. Der dort lehrende Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Winter veröffentlichte jüngst das Buch Uns selbst mussten wir misstrauen, das sich der „jungen Generation“ in der deutschen Nachkriegsliteratur zuwendet. Das 350 Seiten umfassende Buch präsentiert die Beiträge einer Tagung der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft vom Juni 2001.

Doch das Augenmerk gilt nicht nur diesem Shooting star der literarischen Nachkriegsszene. Nur vier der 26 Autoren widmen sich dem früh verstorbenen Schriftsteller Hamburgs. Unverschnörkelt der Beitrag von Michael Töteberg zur kurzen Karriere des „umworbenen Autors“ Borchert, erfrischend kritisch die Bemerkungen Alexandre Marius Dées de Sterios zu Borchert als „Klassiker“.

Die anderen Literaturwissenschaftler aber richten ihre Blicke weit über den hanseatischen Tellerrand hinaus, stellen Positionen kommunistischer Schriftsteller wie Eduard Claudius, Stephan Hermlin und Hans Mayer dar, behandeln die Schuldfrage in Max Frischs frühen Prosatexten oder das Frühwerk des in Hamburg geborenen Arno Schmidt.

Mehrere Beiträge beleuchten den sich konstituierenden Literaturbetrieb nach 1945, kenn- zeichnen Positionen, die sich vor allem in dem als „große Kontroverse“ bekannten Streit zwischen vermeintlichen Vertretern der „Inneren Emigration“ und dem Exil, verkörpert in der Person Thomas Manns, öffentlich darstellten. Überaus lesenswert der Aufsatz von Markus Joch, dessen Analyse dieser Auseinandersetzung den prägnanten Titel „Vom Reservieren der Logenplätze“ trägt.

Einer der „jungen“ Autoren, der in diesem Streit ebenfalls das Wort ergriff, war der 1914 geborene Alfred Andersch, der seit Anfang der 50er Jahre wieder in Hamburg lebte und arbeitete. Kollegen seinesgleichen, so hatte er formuliert, seien „getrennt von den Älteren durch ihre Nichtverantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gefangenschaftserlebnis, durch das ,eingesetzte Leben‘ also.“ Manifestiert sich in dem hier postulierten „Opfer“-Status junger Autoren nicht ein falscher Schulterschluss mit den tatsächlich Verfolgten des Nationalsozialismus? Die erst im letzten Jahr erschienene Studie von Ernestine Schlant, die unter anderem Bücher von Andersch, Böll, Grass auf deren Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung untersuchte, trägt den für manche Ohren vielleicht provokanten Titel Die Sprache des Schweigens (Verlag C. H. Beck).

Es ist erfreulich, dass das von Hans-Gerd Winter veröffentlichte Buch Beiträge zu dem Frühwerk des Exilanten Peter Weiss sowie zum Roman Die größere Hoffnung von Ilse Aichinger präsentiert, die als so genannte Halbjüdin den Nationalsozialismus überlebte. Doch die unterschiedliche, die getrennte, „die andere Erinnerung“ von nicht jüdischen und jüdischen Autoren sowie gerade deren Rezeption in der deutschen Nachkriegsgesellschaft wären stärker zu akzentuieren gewesen. So bekäme man auch eine Antwort darauf, warum der 1951 im Hamburger Verlag Hammerich und Lesser erschienene Roman Effingers der keineswegs mehr jungen Emigrantin Gabriele Tergit trotz lobender Rezensionen von Axel Eggebrecht und von Heinrich Böll kein Erfolg wurde.

Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Uns selbst mussten wir misstrauen.“ Die „junge“ Generation in der deutschsprachigen Nachkriegsgeneration, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2002, 352 S. 20 S/W-Abb., 24,80 Euro