Barfuß über warme Erde laufen

In den Bergen im Nordwesten Kenias sind die Kalenjin beheimatet. Obwohl das einstige Nomadenvolk weniger alsdrei Millionen Menschen zählt, sind die Kalenjin sowohl bei Mittel- als auch bei Langstreckenläufen kaum zu schlagen

von ROBERT HARTMANN

Die Marathon-Weltrangliste dieses Jahres ist noch recht dünn mit Kenianern besetzt, nur sechs der ersten zwanzig Läufer kommen aus dem ostafrikanischen Land. Das könnte sich schon morgen beim Berlin-Marathon ändern, wenn Simon Biwott und Moses Tanui an den Start gehen. Der eine ist der Weltmeisterschaftszweite und Sieger von Rotterdam und Paris, der andere ist eher beim Bostoner Traditionsrennen daheim, das er zweimal gewann, im Frühjahr lief er sich als Wien-Sieger warm.

Vorurteile widerlegt

Dass schwarze Leichtathleten nur sprinten und springen können, ansonsten wegen ihrer Gene lauffaul seien, war die krasseste Fehleinschätzung aus der Bronzezeit der olympischen Kernsportart. Es waren schließlich die Ostafrikaner, unter ihnen vor allem die Kenianer, die seit ihrem Erscheinen in der Weltszene mit diesem Vorurteil aufräumten. Die erste olympische Goldmedaille holte der Kenianer Naftali Temu, in MexicoCity 1968.

Auch in der diesjährigen Leichtathletiksaison haben die Kenianer auf den Strecken von 800 m bis 10.000 m wieder einmal ihr Können ausgespielt. In den sechs klassischen Disziplinen eroberten sie 53 von 120 möglichen Plätzen. Verblüffend ist dabei, dass rund neunzig Prozent von ihnen der Völkergruppe der Kalenjin angehören. Sie sind weniger als drei Millionen, Kinder und Alte mitgerechnet. Der Pool, aus dem die Begabungen geschöpft werden, ist also ausgesprochen klein.

Die Kalenjin führen ihren Namen auf das Wort Kale zurück, Milch. Sie unterteilen sich in fünf Hauptgruppen, die Nandi, Kipsigis, Keiyo, Marakwet und die Elgon Masai. Der Ursprung dieser „Läuferstämme“ liegt im südlichen Nilland, von dem aus sie vor Jahrhunderten auf der Suche nach Weidegrund für ihre über alles geliebten Rinder in den Süden aufbrachen. Sie sind längst sesshaft gewordene „Nilohamiten“. Ihre Heimat wurde der Nordwesten Kenias, rund 300 Kilometer von der Hauptstadt Nairobi entfernt.

Sponsoren aus Übersee

Einige Stämme der Kalenjin haben sich in Uganda und Tansania angesiedelt, wo sie heute ebenfalls die besten, um nicht zu sagen die einzigen wirklich guten Mittel- und Langstreckler stellen. Ihre Besonderheit verdeutlicht ein Beispiel: Die größte Trainingsgemeinschaft in Kenia mit rund sechzig Mitgliedern führt Moses Kiptanui an. Der frühere Weltrekordler über 3.000 m Hindernis wählte die Masai-Gründung Nyahururo („fallendes Wasser“) als Standort. Dort leben die Kikuyu. Doch in den vier Jahren, die er dort logierte, schloss sich so gut wie kein einheimischer Jugendlicher vom größten Volk des Landes dem Camp an – obwohl die Tore weit offen standen.

Im vorigen Jahr zog man daher nach Hause ins Kalenjin-Land um, nach Eldoret, eine Stadt, die mit geschätzten 250.000 Einwohnern aus allen Nähten platzt. Doch die Stadt gilt immer noch als sicher, was für die wohlhabend gewordenen Läufer einen hochgeschätzten Standortvorteil darstellt.

In und um Eldoret schossen über zwanzig Läuferschulen aus dem Boden, die von den großen US-amerikanischen, deutschen und italienischen Sportartikelherstellern gesponsert werden. Doch als die Firma Puma im vorigen Herbst die Zahlungen an Kiptanui einstellte, endete sein Unternehmen mitnichten in Agonie. Das Gegenteil war der Fall. Kiptanui: „Jetzt bezahlen unsere Besten, die es sich leisten können, für die Neulinge mit.“

Dieser Gemeinschaftssinn ist ein anerzogenes Ritual in ihrer bäuerlichen Gesellschaft. Deshalb sollte die außerafrikanische Konkurrenz auch nicht darauf hoffen, dass sich hier eine Mode irgendwann erschöpft. Solange vorzugsweise in Europa, den USA, Japan das Geld auf der Rennbahn oder, wie beim Marathon, buchstäblich auf der Straße liegt, werden die Kenianer die Rennschuhe schnüren und durchstarten.

Lust am Laufen

Dieter Baumann ist in vielen Trainingslagern einer ihrer intimsten Kenner geworden. Für den erstaunlichen Erfolg seiner langgliedrigen, dünnen Gastgeber kann er ein Bündel von Gründen aufgezählen, einer aber ist offensichtlich. „Sie bewegen sich in den ersten vierzehn Jahren ihres Lebens barfuß, zwölf Monate auf warmer Erde, das ist unschlagbar.“ Man braucht nur ihre Füße zu betrachten, sie formen sich jeden Schuh zurecht. Markus Ryffel, der Schweizer 5.000-m-Olympiazweite von 1984, rechnete einmal nach und befand: „Sie besitzen uns gegenüber von vornherein einen Trainingsvorsprung von sechs Jahren.“

Die Lust am Laufen bildet sich bei den Kalenjin auf die natürlichste Weise heraus. Man beobachte die Kinder nach Schulschluss, und das Schauspiel wiederholt sich in täglichen Aufführungen: Rund ein Drittel von ihnen rennt nach Hause – auch wenn die elterliche Schamba kilometerweit entfernt liegt. Es wird gern behauptet, dass die Höhenlage den großen Vorteil bringe. Das ist gar nicht so sicher. Tatsächlich leben die Kalenjin in Höhenlagen zwischen 1.600 und über 3.000 Meter. Dort bildet der Körper überdurchschnittlich viele rote Blutkörperchen aus, die Transporteure des Sauerstoffs. Andererseits führt Wilson Kipketer, der Nandi mit dänischer Staatsbürgerschaft, zurzeit die 800-m-Rangliste mit der Zeit von 1:42,32 Minuten an, obwohl er seit zehn Jahren in Kopenhagen lebt.

Ein weiterer Grund für die Ausnahmestellung der Kalenjin: ihr starke Wille. Baumann fragte einmal seinen Freund Yobes Ondieki, den 5.000-m-Weltmeister von 1991: „Weißt du denn, ob du das Ziel auch erreichst, wenn du schon nach 1.200 Metern einen Vorsprung von 50 Metern hast?“ Wenn er also wie eine Furie losrennt, gegen alles vernünftige Maß, nur um die Gegner zu schockieren? Die Antwort war kurz: „Nein.“ Aber er probierte es genau so und gewann. Solche Läufer zu bezwingen, zumal sie in jüngster Zeit zu Tausenden aufbrechen, um der Ereignislosigkeit der Savannen und der Trostlosigkeit der Armut zu entrinnen, wird dem Rest der Welt sehr, sehr schwer fallen.