Selbstbestimmte Quälerei

Bewältigen Menschen die 42,195 Kilometer bloß, um ihre eigenen Alltagsdefizite zu kompensieren? Oder entspricht die Marathondistanz im biologischen Sinne den „urzeitlichen Lebensumständen“?

von TILMAN VON ROHDEN

Das Ganze beruht auf einem einzigen Missverständnis. Nie und nimmer wollte der weltweit erste Marathonläufer, dass sich tausende Läufer über eine Distanz von 42,195 Kilometer quälen. Denn er selbst lief, um den Sieg der Griechen über die Perser in Athen zu verkünden, nur eine Strecke von rund 35 Kilometern. Und selbst die musste er mit dem Tode bezahlen.

Die Marathondistanz haben genau genommen nicht die demokratischen Griechen, sondern die aristokratischen und monarchistischen Engländer ersonnen. Die Königskinder sollten den Start des Marathons während der Olympiade 1908 bequem von den Fenstern auf Schloss Windsor verfolgen können. Als die Läufer im Londoner Stadion ankamen, hatten sie exakt 42,195 Kilometer zurückgelegt. Und dabei blieb es ein für alle Mal.

Das damalige Moment der Exklusivität schwingt heute immer noch mit, allerdings im Gewande eines bürgerlichen Leistungsbegriffs: nur die wenigsten bringen Konstitution und Kondition mit, einen solchen Lauf in Würde zu überstehen. Für die meisten Teilnehmer geht es jedoch nicht um Würde oder Spaß, sondern eher ums Überstehen eines selbstinitiierten Überlebenskampfes: Schaffe ich es oder nicht? Die Beantwortung dieser Frage treibt die Menschen auf die Straßen.

Dahinter mag oft der Wunsch stehen, die eigenen Alltagsdefizite zu kompensieren. Das Gefühl von Saturiertheit, Ereignislosigkeit und dem Zwang zu familiärer und berufsbedingter Bodenständigkeit für einen kurzen Moment hinter sich zu lassen. Wie sonst sollen die immer neuen Ziele zu erklären sein, zu denen Läufer aufbrechen? Das Härteste, was die Szene bisher zu bieten hat, ist das Trans America Footrace – eine Strecke von 4.991 Kilometern quer durch die Vereinigten Staaten ohne einen Tag Pause bis zum Ziel im New Yorker Central Park.

Im August stellte der 47-jährige Deutsche Wolfgang Schwerk bei diesem Ultramarathon mit einer Zeit von 42 Tagen, 13 Stunden, 24 Minuten und 3 Sekunden einen neuen Weltrekord auf. „Nach dem Lauf war ich absolut leer – nicht nur körperlich, sondern auch mental“, sagte er nach den überstandenen Strapazen. „Erfahrungsgemäß braucht man ein Jahr, bis man so einen Wettkampf restlos verdaut hat.“

Dass solch Quälerei nur ein Reflex auf eine unbefriedigte Gegenwart sein soll, bezweifeln allerdings einige Evolutionsbiologen. Tapfer erklären sie das Laufen mit „urzeitlichen Lebensumständen“, die von Zeit zu Zeit hervorbrechen. Die Marathondistanz sei im biologischen Sinne das Normale, darauf sei der Mensch durch das Jagen und Sammeln im Umkreis von Wasserstellen trainiert. „Der Mensch ist Renner. Ermüdet von der Jagd und beladen mit der Beute, lag die Belastungsgrenze der Urmenschen bei 40 Kilometern“, sagte beispielweise der noch heute bekannte Fernsehprofessor Hoimar von Ditfurth.

Doch egal welche Schule, die biologistische oder zivilisationskritische, die Oberhand im Diskurs über die Königsdisziplin behält, ein Moment vergessen beide: Zunehmend gewinnen ökonomische Faktoren Einfluss auf das Geschehen. Zwar weniger auf Extremveranstaltungen wie dem Trans America Footrace (eine Pleiteveranstaltung), dafür umso mehr auf freundlichere Distanzen wie das Halbmarathon oder auch die volle Strecke. Und mit der Kommerzialisierung fließen neue Motive in die Gemengelage ein. Die Klasse der professionellen Läufer entstand.

Bei den großen Städteläufen wie New York, Boston oder Berlin fließen für die Topläufer sechsstellige Beträge, schon ein Antritt wird mit einem Haufen Geld belohnt. Wer’s genau wissen will: 6,546 Millionen Dollar sind bis Mitte dieses Jahres an Läufer in sämtlichen Preisgeldmarathons rund um den Globus ausgeschüttet worden.

Ein typisches Produkt dieser Entwicklung ist die Japanerin Naoko Takahashi, die beim Berliner Marathon im vergangenen Jahr als erste Frau der Welt unter 2:20 Stunden lief, was ihr eine Siegprämie von 210.000 Mark zuzüglich weiterer Gratifikationen einbrachte. Mit diesem Sieg und ihrem Golderfolg bei der Olympiade in Sydney legte sie das Fundament für eine veritable Popexistenz in ihrer Heimat. Die „Tochter des Windes“, so ihr Kosename in Japan, ist Protagonistin eines Comics, die Memoiren der heute 30-Jährigen wurden zum Bestseller, und die japanische Regierung verlieh ihr den Orden für „besondere Dienste gewöhnlicher Bürger“.

Letztes Jahr kam sie mit dem Willen nach Berlin, Weltrekord zu laufen. Nun beseelt das Berliner Publikum, das ihr am Flughafen Tegel einen begeisterten Empfang bereitete, nur eine Frage: Schafft es Takahashi, die Weltbestzeit, die mittlerweile von der Kenianerin Catherine Ndereba mit 2:18:47 Stunden gehalten wird, erneut zu unterbieten?