Die machtlose Siegerin

Berliner Agenda (3): Angela Merkel könnte die Union für Frauen, Norddeutsche und Junge wählbar machen. Es ist noch offen, ob Koch, Merz & Co. das zulassen

Fraglich ist, ob Merkel tatsächlich das nötige Machtpolster besitzt, um neue Akzente zu setzen

Innerhalb der Union gilt Angela Merkel als die eigentliche Siegerin der Wahl. Die als Übergangsvorsitzende belächelte Ostdeutsche scheint damit endgültig in die Fußstapfen Helmut Kohls zu treten. Auch der hatte in der schweren Krise von 1973 zunächst nur den Parteivorsitz übernommen und sich aus der Fraktion herausgehalten, da er hier weniger Rückhalt fand. Erst nach der gescheiterten Bundestagswahl übernahm auch Kohl jene Doppelspitze, die ihm langfristig den Weg zur Kanzlerschaft sicherte.

Hat Angela Merkel nun also eine ähnliche Machtfülle erreicht wie einst der junge Helmut Kohl? Der Blick in die erste Oppositionsphase der CDU nach Kohl unterstreicht eher Merkels Defizite. Im Unterschied zum jungen Pfälzer ist ihr die Reform von Organisation und Programm bisher nicht gelungen. Vergleichbare Netzwerke konnte sie ebenfalls nicht aufbauen. Kohl hatte zudem als Ministerpräsident seine politischen Führungsqualitäten bewiesen. Merkel stützt dagegen nur der Parteivorsitz. Diese Stütze hat sich jedoch im letzten Jahr als recht brüchig erwiesen. Kohl hatte sich 1976 innerparteilichen Respekt auch durch ein extrem gutes Wahlergebnis verschafft. Die dürftigen Unionsgewinne der diesjährigen Bundestagswahl beruhen dagegen vor allem auf dem Spitzenergebnis der CSU. Selbst den neuen Fraktionsposten verdankte sie letztlich Edmund Stoibers Votum. Sollte dieser Rückhalt wegbrechen, wird sie einer übergroßen CSU-Fraktion gegenüberstehen, die schwer zu bändigen ist.

Doch darf man Angela Merkel nicht unterschätzen. Wie Kohl wird sie davon profitieren, eine machtbewusste und fleißige Generalistin zu sein, mit der niemand rechnet. Wie ihr großer Vorgänger wird sie zwar in mancher Haushaltsdebatte ins Schwimmen kommen, aber letztlich kommt es eben weniger auf eine präzise Zahlenkenntnis an – wie das Scheitern von Stoiber und Merz unterstreicht. Entscheidend für den Erfolg eines Vorsitzenden ist, dass er unterschiedliche Parteigruppen emotional und inhaltlich integrieren kann. Hier liegt ihre Chance, vielleicht doch die richtige Frau am richtigen Platz zu sein.

Merkels bisherige Arbeit deutet an, dass sie die christdemokratischen Koordinaten verschieben wird. Der klassische Antikommunismus der Union ist bei dieser Wahl bereits deutlich zurückgetreten. Vermutlich muss die Union sogar vom Lagerwahlkampf abrücken. Denn erfolgreiche Herausforderer siegten bisher eher durch eine Anlehnung an die regierende Mehrheit. Dies dürfte eher Angela Merkel gelingen als Roland Koch oder Edmund Stoiber.

Merkels neue Position verspricht demnach eine Liberalisierung der CDU. Als Fraktionsvorsitzende kann sie Reformen politisch vorantreiben, die sie als Parteivorsitzende programmatisch begonnen hat. Wie im Wahlkampf wird sie weiterhin auf die Arbeitsmarktpolitik setzen. Aber im Unterschied zu Merz oder zu Stoiber steht sie für eine breitere Themenpalette, die auch die so genannten weichen Politikfelder umschließt. Vor allem die Familienpolitik und der Umweltschutz dürften unter ihrem Fraktionsvorsitz an Bedeutung gewinnen.

Das Wahlergebnis wird ihr dafür gute Argumente liefern. Denn obwohl Stoiber mit einigem Erfolg die Fehler von Strauß’ Wahlkampf 1980 vermieden hat, zeigte das Resultat ähnliche Schwächen. Wieder waren es die Norddeutschen, die jüngeren Wähler und die Frauen, die den bayerischen Kandidaten um den Wahlsieg brachten. Dies ist nicht allein Stoiber zuzuschieben, sondern beruht zugleich auf strukturellen Defiziten der CDU/CSU. Vielleicht kann Merkel sie lösen.

So fielen in den letzten Jahrzehnten nahezu kontinuierlich die Wählerinnen von der CDU ab. Diesmal entschieden sich nur noch 36 Prozent der Frauen für die Union, dagegen 41 Prozent der Männer. Die stärkere weibliche Kirchenbindung, die bislang gute Ergebnisse sicherte, machte sich nun nur noch bei den westdeutschen Frauen von über 60 Jahren bemerkbar. Deshalb kann Merkel nun mit guten Argumenten die Liberalisierung der Frauen- und Familienpolitik vorantreiben. In symbolischen und grundsätzlichen Fragen wie dem § 218 wird die Union ihre bisherige Position halten. Aber vor allem in Fragen der Ganztagsbetreuung dürfte die Union unter Merkel umdenken. Mit Jürgen Rüttgers und Peter Müller hat sie dabei wichtige Verbündete in der Partei. Ob sie sich in solchen Fragen auch in der Fraktion durchsetzen kann, ist bisher nicht abzusehen. Der weiterhin geringe Frauenanteil in der Unions-Fraktion, der wieder nur ein gutes Fünftel beträgt, unterstreicht den Handlungsbedarf.

Ebenso wird die Union Konzepte entwickeln müssen, um die jüngeren Wähler anzusprechen. Mit den spärlichen dreißig Prozent, die die CDU/CSU von den 18- bis 24-jährigen Wählern erhielt, blieb sie sicher deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Denn so schlecht sind ihre Ressourcen bei den Jungwählern nicht. Die Junge Union ist die mit Abstand stärkste Jugendorganisation. Auch die gesellschaftliche Entwicklung scheint für die Union zu sprechen. Wie zuletzt die Shell-Studie unterstrich, stehen bei den Jungwählern bürgerliche Werte wie Leistung, Familie und Sicherheit zunehmend im Vordergrund. Die Ursachen für das dennoch schlechte Abschneiden liegen ebenfalls nicht allein beim konservativen Image von Stoiber. Es war vermutlich auch die Sprache der Union, die zu technokratisch um die „Förderung des Mittelstandes“ und die „Entbürokratisierung“ kreiste. An Angela Merkel mögen viele Christdemokraten kritisieren, dass sie nicht wie eine geborene Wirtschaftspolitikerin wirkt. Aber um politikferne Gruppen wie die jüngere Generation anzusprechen, dürfte ihr Profil vielversprechender sein.

Letztlich kommt es weniger auf präziseZahlenkenntnisse an, wie StoibersScheitern zeigt

Schließlich muss die Union vor allem über die Nord-Süd-Spaltung ihrer Ergebnisse nachdenken. Der katholisch geprägten CDU war es seit den Fünfzigerjahren unter großen Anstrengungen gelungen, die norddeutschen Protestanten mit programmatischen und personellen Zugeständnissen einzubinden. Diese Integrationspolitik hat die Union jedoch seit den Neunzigerjahren vernachlässigt. Die Klage gegen den Länderfinanzausgleich verstärkten diese Spaltung. Mit Kruzifixen in der Schule mag die CSU ihre Wähler mobilisieren. Im Norden bleibt Derartiges vielen bürgerlichen Wählern suspekt. Merkel könnte hier ebenfalls eine Wende einleiten. Denn sie verkörpert eine säkularisierte Form des Glaubens, die den protestantisch geprägten Ländern vertrauter ist.

Für die aktuellen Probleme der Union ist Angela Merkel somit die richtige Spitze. Jemand wie Roland Koch dürfte dagegen jenseits der engsten Anhänger auf ähnliche Probleme stoßen wie Edmund Stoiber. Allerdings scheint zurzeit fraglich, ob Merkel tatsächlich das notwendige Machtpolster besitzt, um neue Akzente zu setzen. Im Wahlkampf hat sie dadurch geglänzt, dass sie die Union geschlossen hielt. Nun muss sie deren Öffnung erreichen. Vielleicht ist das die schwierigere Aufgabe.

FRANK BÖSCH