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Der Hass der Unbeholfenen

Je mehr die Menschen verarmen, desto frecher werden die Wölfe, hieß es in „Simplicius Simplicissimus“, dem Roman des 30-jährigen Krieges. Heute entdecken Teenager die „Wolfs-Frau“ in sich. Eine Geschichte von Bauern, Schafen und Wölfen

von HELMUT HÖGE

Im großen deutschen Bauernkrieg 1524/26, dem im Norden der Sieg der freien Dithmarscher Bauern gegen ein Landsknechtheer der Fürsten, im Süden die gescheiterten Bundschuh-Aufstände vorausgingen, waren die Gegner der Bauern „Wölfe“: nämlich die Adelsheere, gegen die sie sich in Haufen organisierten. Die wenigen mit ihnen sympathisierenden Adligen wurden zwar aufgenommen, mussten sich aber „zu Fuß“ einreihen und bekamen keine Befehlsgewalt. So empfahl etwa die Flugschrift „An die Versammlung gemeiner Bauernschaft“ den Bauern, alle militärischen Ränge selbst zu besetzen – „denn es will sich fürwahr nicht reimen, dass man Wolfshaar unter die Schafswolle mischt …“

Auch der herausragende Sprecher und Organisator der Bauernbewegung, Thomas Müntzer, begriff die vornehmen Herren als Wölfe, die dem gemeinen Manne zum Feind geworden waren. Andersherum wurde aber auch er bald von seinem ehemaligen Mitstreiter Martin Luther als „falscher Geist und Prophet“ beschimpft, welcher „in Schafskleidern dahergehe, inwendig aber ein reißender Wolf“ sei. Der Prediger Müntzer, den Erich Honecker „zum Besten“ zählte, „was unser Volk hervorgebracht hat“, sowie der ehemalige Reichsritter Florian Geyer, den der Bauernkriegshistoriker Wilhelm Zimmermann als „den schönsten Helden des ganzes Kampfes“ bezeichnete, wurden 1525 hingerichtet beziehungsweise ermordet. Die durch die Niederlagen der Bauernhaufen eingeleitete Refeudalisierung wirkte so lange nach, dass noch Alexander von Humboldt es als „großen Fehler in unserer Geschichte“ bezeichnete, „daß die Bewegung des Bauernkrieges nicht durchgedrungen ist“. Noch später begriff Friedrich Engels den Bauernkrieg als den „Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte“.

Schon 1525 gab es einen ersten Entwurf für ein Bauernkriegsdenkmal – von Albrecht Dürer, der dazu eine von trauernden Rindern und Schafen umlagerte Gedenksäule zeichnete, die von einem knienden Bauern mit einem Dolch im Rücken gekrönt wurde. Zur tatsächlichen Errichtung eines Bauernkriegsdenkmals kam es jedoch erst im vorletzten Jahr des Arbeiter- und Bauernstaates DDR, nach Konstituierung eines staatlichen „Thomas-Müntzer-Komitees“ im März 1988, das dann auf dem „Schlachtberg“ bei Frankenhausen einen Rundbau errichten ließ, in dem die Protagonisten und Vordenker dieser frühbürgerlichen Revolution mit dem „größten Gemälde der Welt“ geehrt wurden.

Ansonsten war die Einstellung zu den Bauern in der Arbeiterbewegung immer schwankend: Schon Marx schätzte sie wegen ihrer „Kleinbesitzerinstinkte“ als konservativ ein, und auch Lenin lehnte noch im Frühjahr 1917 die Forderung der Bauern nach Neuverteilung des Bodens als „bürgerlich“ ab. Später wurden die neuen Ackerbesitzer erst zwangskollektiviert, dann erlegte man ihnen noch jede Menge Restriktionen auf. So ähnlich geschah es auch in der DDR.

Nach der Niederschlagung der Bauernrevolten des 16. Jahrhunderts begannen die Säuberungen in den Gemeinden und Städten: Die Hexenvernichtung erlebte ihren ersten Höhepunkt, es kam zu Judenverfolgungen. Schließlich mündete die zur Feudalangelegenheit gewordene Reformation in den 30-jährigen Krieg. Hier hatten die mordenden und plündernden Landsknechtheere der Fürsten ganz reale Wolfsrudel im Gefolge. Aus Oberhessen, wo die protestantischen genauso wie die katholischen Heere gefürchtet waren, berichten die Chroniken, dass in einigen der heimgesuchten Orte die Pest ausbrach und die Wolfsplagen sowie die Hexenprozesse zunahmen. In Steinau überfielen die in den Wald geflüchteten Bauern zur Abwechslung selber gelegentlich räuberische Heeresteile. Anders in Salmünster, das „nicht mehr eine Wohnstätte der Menschen, sondern ein Schlupfwinkel der Hasen und Wölfe“ geworden war. Auch der weitgehend in Oberhessen spielende Roman des 30-jährigen Krieges, „Simplicius Simplicissimus“, dessen Autor Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen zu den Begründern des Genres „Dorfgeschichte“ zählt, erwähnt immer wieder die Wölfe, die fetter und frecher werden, je mehr die Menschen verarmen. Es gibt Historiker, die die Schwächung eines Dorfes, einer Gemeinschaft überhaupt, an der Dreistigkeit der Wölfe drum herum ermessen.

In der frühbürgerlichen Literatur kommt der Bauer zunächst nur als ungehobelter Klotz vor. Dies ändert sich mit den Flugschriften der Bauernbewegung, in denen er selbst angesprochen wird und sich hier und da auch selbst zu Wort meldet. Nach G. Kühn wurde jedoch dieser „Ansatz zu einer positiven literarischen Bauernzeichnung durch die antibäuerliche Wendung der Lutheraner und die Niederlage der revolutionären Bauernheere unterdrückt“. Erst nach den Verwüstungen des 30-jährigen Krieges (1618–48) wurde der Bauer wieder aufgewertet: Die Obrigkeit erkannte, dass ein gesunder Bauernstand als Steuerzahler und Wirtschaftsfaktor unentbehrlich ist. Die Physiokraten erklärten die Landwirtschaft zur Grundlage eines jeden Staates, für Jean-Jacques Rousseau ist der Bauernstand aufgrund seiner Naturverbundenheit gar „der einzig notwendige und nützlichste“. In den eidgenössischen Bauernrepubliken der Schweiz gipfelten die Dorfgeschichten in der Darstellung der bäuerlichen Lebensführung als einzig „vernunftgemäße“, wobei die wirtschaftliche Ertragsverbesserung sich mit der Binnenmoral des bäuerlichen Familienbetriebs verband. Damit tritt laut Jürgen Hein ein neuer Bauerntyp in die Literatur: „der kluge, auf sich selbst gestellte Naturbauer, den kein Abhängigkeitsverhältnis hindert, aufklärerische philosophische Ideen in die Praxis umzusetzen und sein Leben selbständig zu gestalten“. Berühmt wurde Johann Heinrich Pestalozzi, der für sein „Katechismusprojekt“ zur sittlichen Festigung der Landbevölkerung zunächst bei einem „reformerischen Landwirt“ in die Lehre ging.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Bauer mit der Romantik auch „volksbiologisch und politisch aufgewertet“, Ernst Moritz Arndt gilt der Freibauer „als bester Bewahrer gesunder Art“. Von den antinapoleonischen Freiheitskriegen sollten und wollten auch die Bauern profitieren, aber die anschließende Restauration nimmt diesen Bestrebungen wieder den Wind aus den Segeln. Um ihre Aufwiegelung gegen diese Neue Ordnung geht es dann der kleinen Gruppe um Georg Büchner, die für die armen Bauern Oberhessens den „Hessischen Landboten“ 1834 als Flugschrift herausgab und verteilte. Darin wurde unter anderem der Luxus der Fürsten, die auf Kosten der Bauern lebten, angeprangert: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Diese Agitation bricht jedoch rasch zusammen: Einer der Flugschriftverteiler stirbt im Gefängnis, Büchner muss nach Frankreich flüchten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kippt die Dorfgeschichte beziehungsweise der Bauernroman vollends um ins Konservative: „Nach Ernst Bloch haben im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts plebejisch-revolutionäre Richtung und frühe Romantik die ursprüngliche Schönheit des Volkes erhalten, die spätere, reaktionäre Bewegung aber habe die Folklore gerade dazu benutzt, patriachalisch feudal-restaurativ zu wirken“, schreibt Jürgen Hein. Zugleich verlagert sich das Interesse auf den Großbauern, wohingegen das Landproletariat ausgeklammert wird. Zwischen 1870 und 1910 kommt es zu einer anschwellenden Landflucht, gleichzeitig gründet sich der „Bund der Landwirte“, dem vor allem Mittel- und Kleinbauern angehören, der jedoch von Großagrariern geführt wird. Er verfolgt eine industriefeindliche, auf nationale Autarkie gerichtete Schutzzollpolitik. Im Schrifttum wird der mit seiner Scholle verwurzelte Bauer gegen den Städter und wurzellosen Literaten positioniert. Einer der aufklärerischen Romantisierer der kleinbäuerlichen Lebensweise ist Peter K. Rosegger, der seine Hinwendung zu den Bauern damit erklärt, dass sich „heute auf dem Dorf ein welthistorischer Prozeß vollzieht – der Übergang von der alten Kultur zu einer neuen“. Je mehr der Bauer volkswirtschaftlich an den Rand gedrängt wird, desto zentraler wird er in der bürgerlichen Ideologie. Als direkten Vorläufer der völkischen Blut-und- Boden-Literatur kann man die „Heimatkunst“-Bewegung ansehen, die gegen die zersetzende Großstadtliteratur antrat. Berühmt wurden Karl May und Ludwig Ganghofer. 1910 erschien „Der Wehrwolf“ von Hermann Löns.

George L. Mosse schreibt darüber in seinem Buch „Die völkische Revolution“: „Die Wölfe waren Bauern, die Raub und Plünderung als das Recht akzeptierten, das im 30-jährigen Krieg entstanden war. Dieses Recht erlaubte ihnen, eigene Urteile über ihre Feinde und die des Volkes zu fällen. Historisch gesehen ist wenig an dieser Beschreibung des grausamen Zeitalters falsch, aber so, wie es im Roman dargestellt wird, ist deutlich erkennbar, dass die Grausamkeit der Bauern nicht nur der reinen Selbstverteidigung diente, sondern zu ihren wahren und echten Werten gehörte. Die blutrünstigen Taten sind in eine Aura von Genugtuung gehüllt, wenn ein Bauer die Tage des Wehrwolfs als die „ ‚so schrecklichen und doch so schönen‘ Tage bezeichnet“. Als die Gesellschaft während des 30-jährigen Krieges auseinander fiel, öffnete sich ein Spalt: „Die Bauern entdeckten ihre aggressiven kriegerischen Instinkte und brachen durch die übermächtige Schicht der Zivilisation. Hermann Löns erlaubt ihnen, auf die anderen Bevölkerungsklassen hinunter zu schauen und sowohl zu den Bürgern als auch zu den Arbeitern zu sagen: ‚Ich bin der Baum und ihr seid die Blätter, ich bin die Quelle und ihr seid die Flut, ich bin das Feuer und ihr seid der Schein.‘ “

Mit dem Bauern als Wehrwolf hat sich die Sichtweise seit dem auf Gleichheit erpichten Bauernkrieg komplett umgedreht. Die Schafe, das sind jetzt eher die Städter, die nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg auf „Hamsterfahrt“ über die Dörfer gehen und die Bauern um Lebensmittel bitten. Diese sind inzwischen bürgerlich gewitzt genug, um von diesem Verkäufermarkt zu profitieren: Im Endeffekt finden immer mehr städtische Luxusgüter ihren Weg in die Bauernhöfe, hernach spricht man abfällig vom Perserteppich im Schweinestall.

Ganz anders im vom Bürgertum nur kurz beeinflussten Serbien, dort, so erzählte Alexandar Tisma im März 2002, kamen die Bauern regelmäßig mit ihren Waren auf den Markt, obwohl die Nato die Städte bombardierte: „Es gab keine Hysterie, die Bauern sagten nicht ‚Jetzt bleiben wir alle zu Hause und die anderen können Hungers sterben‘. Auch die Preise stiegen nicht. Kein Bauer sagte, jetzt kosten die Kartoffeln das Doppelte, weil ich mein Leben riskiere. Nein, er hat es als ganz normal angesehen, sein Leben im Krieg zu riskieren. So denkt kein Bürger.“

Hinzugefügt sei, dass es bereits im jugoslawischen Partisanenkrieg gegen die Deutschen eine ähnliche Solidarität gab zwischen Städtern und Bauern – wie zuvor nur im deutschen Bauernkrieg. Und die Industrialisierung begann dort auch erst ernsthaft unter der Führung der Kommunistischen Partei nach dem Zweiten Weltkrieg – ohne Bürgertum. Zuvor hatten sich Partisanen und Deutsche gegenseitig als „Wölfe“ begriffen und gejagt, wobei die deutschen Partisanenvernichtungskommandos sich sogar selbst als „Wölfe“ bzw. „blonde Bestien“ bezeichneten.

Die nachgeholte Industrialisierung als revolutionäre Entwolfung des ländlichen Raumes, das ist das Thema des großen Romans über den russischen Bürgerkrieg „Maschinen und Wölfe“ von Boris Pilnjak (1924): „Für mich ist der Wolf – die herrliche russische Romantik, stürmisch und schrecklich wie der Bauernaufstand Stenjka Rasins … Unsere ganze Revolution ist elementar wie der Wolf.“ Aber diese „Elementargewalt“ muss besiegt werden – durch die Proletarisierung, das heißt Disziplinierung und Bildung der bäuerlichen Massen mittels der großen modernen Maschinerie und unter der Anleitung von Kommunisten. Weil sich im Bürgerkrieg wie im 30-jährigen Krieg die Wölfe unmäßig vermehren und ganze Dörfer terrorisieren, rückt eine „Kommission zur Vernichtung der Räuber“ an, bestehend aus einem Volksrichter, einem Kommissar, einem Gerber, einem Uhrmacher, einem Apotheker und einem Ingenieur. Es gelingt ihnen, 13 Wölfe zu töten, die sie auf Bauernwagen laden und mitnehmen: „wichtig ist, wie das Dorf die Wölfe empfing“, schreibt Pilnjak. Alles lief zusammen, um sich die toten Wölfe anzusehen, „um ihnen, so gut es jeder konnte, einen Fluch nachzuschleudern, den toten kraftlosen, ungefährlichen Wölfen. In diesen Flüchen war die ganze russische Bauernwut, Armseligkeit und Stumpfheit. – Man mußte die Wölfe verteidigen – die toten Wölfe – vor Prügelei, Fußtritten und Anspeiungen … Dieser Haß war nicht mehr menschlich – dies war tierischer, schrecklicher Haß. Den Apotheker, den Ingenieur, den Uhrmacher – sie alle packte Angst vor diesem Bauernhass, diesem viehischen, feigen, erbarmungslosen Haß. Und sie waren – wenn man so sagen kann – auf Seiten der toten Wölfe.“

Die Intelligenzler, die sich schon wieder von Jägern zu „ganz gewöhnlichen Menschen“ gewandelt hatten, blickten in einen Abgrund. Umgekehrt lässt Hermann Löns seine bäuerlichen Wehrwölfe aus ihrem Abgrund heraus verächtlich auf die Intelligenz blicken. Aus dem Romantitel wurde die Massenorganisation „Der Wehrwolf“. 1923 in Halle vom Studienrat und Hauptmann der Reserve Fritz Kloppe gegründet, versuchte dieser Verband sich bei der Verteidigung Deutschlands gegen den äußeren Feind nützlich zu machen, der Kriegsschuldlüge entgegenzutreten und seinen Mitgliedern eine Erziehung zu „Manneszucht und Verantwortung“ angedeihen zu lassen. Die meisten fantasieuniformierten Mitglieder wechselten später zur SA über. An der schleswig-holsteinischen Westküste schlossen sich einige Ortsgruppen 1928/29 aber auch der Landvolkbewegung an, von der sich die NSDAP bald distanzierte. Die Partei setzte sogar eine Belohnung aus zur Ergreifung der Bombenleger aus der Landvolkbewegung, die Landrats- und Finanzämter angriffen. Später hieß eines der Führerhauptquartiere – in der eroberten Ukraine – „Werwolf“, noch später wurde als letztes Aufgebot ein nationalsozialistischer Partisanenverband namens „Werwolf“ aufgestellt, der hinter dem Rücken der Feinde operieren sollte. Er kam über einige Sabotageaktionen und Fememorde nicht hinaus. Sowohl die Amerikaner als auch die Russen machten mit den Werwölfen meist kurzen Prozess.

Giorgio Agamben schreibt: „Die Verwandlung in einen Werwolf entspricht exakt dem Ausnahmezustand, während dessen (notwendig begrenzter) Dauer das Gemeinwesen aufgelöst ist und die Menschen in eine Zone der Ununterscheidbarkeit mit den Tieren geraten“. Neuerdings nennen sich einige Neonazigruppen „We(h)rwölfe“.

Der ehemalige Buchenwaldhäftling Eugen Kogon hat festgestellt, dass die ärgsten Greueltaten in den Konzentrationslagern von Bauernsöhnen verübt wurden. Theodor Adorno merkte dazu an: Diese Tatsache „richtet alle Rede von Geborgenheit; die ländlichen Verhältnisse, ihr Modell, stoßen ihre Enterbten in die Barbarei“. Als den Philosophen dieser scheußlichen Verhältnisse hat er Martin Heidegger ausgemacht. Der schrieb, nachdem er einen Ruf an die Humboldt-Universität abgelehnt hatte: „Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muß dann einfach und wesentlich werden.“ Adorno antwortet darauf: „Ob Fragen wesentlich sind, darauf läßt allenfalls nach der Antwort sich urteilen, es läßt sich nicht vorwegnehmen und schon gar nicht nach dem Maß einer meteorologischen Ereignissen nachgebildeten Einfachheit … Heidegger aber unterstellt prästabilierte Harmonie zwischen wesentlichem Gehalt und heimeligem Geraune“. Es soll damit der Verdacht betäubt werden, der Philosoph könnte ein Intellektueller sein und seine philosophische Arbeit die abseitige Beschäftigung eines Sonderlings. Stattdessen gehört sie laut Heidegger „mitten in die Arbeit der Bauern“. Man möchte dazu „wenigstens deren Meinung erfahren“, schreibt Adorno, „Heidegger bedarf ihrer nicht. Denn er sitzt ‚zur Zeit der Arbeitspause abends mit den Bauern auf der Ofenbank … oder am Tisch im Herrgottswinkel, dann reden wir meist gar nicht. Wir rauchen schweigend unsere Pfeifen.‘ “

Es geht hierbei nicht nur um den Blubo-Philosophen, sein „hohler Jargon“ korrespondiert mit der Dauerkrise der kleinbäuerlichen Betriebe, „deren Fortexistenz einzig jener Tauschgesellschaft zu verdanken ist, der ihr Grund und Boden dem bloßen Schein nach enthoben ist; vorm Tausch haben die Bauern nur noch ein Schlechteres voraus, die unmittelbare Ausbeutung der Familie, ohne die sie bankrott wären … Wer durch die Gestalt seiner Arbeit zum lokalen Verharren gezwungen ist, macht gern aus der Not eine Tugend und sucht sich und andere davon zu überzeugen, seine Gebundenheit sei eine in höheren Ordnungen. Schlechte Erfahrungen des dauernd von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Bauern mit Zwischenhändlern bestärken ihn darin. Der Haß des gesellschaftlich Unbeholfenen, womöglich nicht Zugelassenen auf den Geschliffeneren und Umgänglicheren als den Hans Dampf in allen Gassen eint sich mit dem Widerwillen gegen den Agenten, vom Viehhändler bis zum Journalisten.“

Adorno steht mit dieser Einschätzung der Bauern als reaktionär und antisemitisch in der linken Tradition. Erst spät und dann auch nur halbherzig haben SPD und KPD das Kleinbauerntum und das Landproletariat als Bündnispartner der Arbeiterbewegung entdeckt. Noch zu DDR-Zeiten hat der schleswig-holsteinische Bauernagitator und spätere Schriftsteller Bodo Uhse dies seiner Partei, der SED, vorgeworden. Andererseits gibt der Wesermarschbauer Arne Thomsteeg, den die nachkriegsgewendete Agrarbürokratie von seinem Hof vertrieb, in einem über ihn 1999 erschienenen Buch der Edition Bauernstimme zu bedenken, dass „die landwirtschaftlichen Sonderführer in den von Deutschen besetzten Gebieten die schlimmsten waren … Es tut mir leid, daß ich das sagen muß. Auch bei den Soldaten war das so. Die, die aus der Landwirtschaft kamen, waren die unkameradschaftlichsten.“

Nach dem Scheitern der Landvolkbewegung fielen die Bauern sofort mehrheitlich der völkisch-rassistisch und antisemitisch werbenden NSDAP anheim, die aus ihnen einen neuen deutschen Adel formieren wollte, wie der Reichsbauernführer Walther Darré versprach: einen Adel, der in einem kämpferischen Germanentum verwurzelt ist – aber als solcher endlich frei, und zwar vor allem von humanistischen Skrupeln: „Die Freiheit, die die germanischen Krieger genießen“, sagte Michel Foucault in einer Vorlesung 1976, „ist wesentlich eine egoistische Freiheit, eine der Gier, der Lust auf Schlachten, der Lust auf Eroberung und Raubzüge … Sie ist alles andere als eine Freiheit des Respekts, sie ist eine Freiheit der Wildheit … Und so beginnt dieses berühmte große Porträt vom ‚Barbaren‘, wie man es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und natürlich bei Nietzsche finden wird“ – den die Nationalsozialisten dann zu ihrem biopolitischen Vordenker erklären. Wobei ihre „Transformation“ aus der Absicht der Befreiung die Sorge um (rassische) Reinheit werden lässt. Diese letzte Bemerkung von Foucault, die er auch auf die Sowjetunion münzte, gipfelt in der Frage: „Was gibt es (überhaupt) in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“

Daraus erklärt sich vielleicht auch die Dialektik von Bauern- Selbstbefreiung, Scheitern und Wehrverwolfung. Mir drängte sich diese das letzte Mal 1990 auf dem letzten ostdeutschen „Bauerntag“ in Suhl auf, wo der westdeutsche Präsident des Bauernverbandes von Heereman auftrat, der den ostdeutschen LPGen nur den Charakter einer „Übergangslösung“ zubilligte und zudem auf die Rechte der ehemals Bodenenteigneten bestand. Aber „mit gebremstem Schaum“ und Gottvertraun seien die damit verbundenen „Probleme“ lösbar.

Ein LPG-Vorsitzender verstand ihn auf Anhieb: „Wir müssen wieder wie die Wölfe werden!“ Entsetzt fragte daraufhin die Agrarjournalistin des Neuen Deutschland den gerade gewählten neuen Präsidenten der ostdeutschen Bauernvereinigung VdGB, ob jetzt nicht eher „Solidarität“ notwendig sei – statt Wölfischwerden. „Faire Partnerschaft“ (mit den Verbänden und Raiffeisengenossenschaften im Westen) sei damit gemeint gewesen, präzisierte der Ost-Bauernführer, dessen Vereinigung wenig später schon dem westdeutschen Bauernverband wich. Inzwischen gibt es nur noch etwa so viel Bauern wie Automobilbauer in ganz Deutschland (etwa 600.000), und jetzt wird nicht mehr der perspektivlose Jungbauer vom Wölfischwerden versucht, sondern eher der junge professionelle Städter – bis hin zu den Vorstadtteenagern, denen US-Psychologinnen raten, die „Wolfs-Frau“ in sich zu entdecken. Aus dem delphinischen New Age mendelte sich die wölfische New Economy raus, und aus Gegnern wurden Partner! Flankierend dazu wurden in Westeuropa immer mehr Wolfwiederansiedlungspläne wirksam – man spricht von der „letzten Fruchtfolge: Wolferwartungsland“, wobei man die zukünftigen Viehschäden der Bauern nach „Wolf-Management-Masterplänen“ berechnet und mit den zu erwartenden Einnahmen aus dem naturverbundenen Tourismus verrechnet.

In „Chatrooms“ diskutieren derweil junge Wolffans und alte Wolfexperten die persönlichen Eigenschaften jedes in Freiheit neugeborenen Wölfchens. Seit der Börsenkrise 2002 gibt es jedoch plötzlich ein Innehalten: Erst ließ die FAZ das nachdenkliche Gedicht des Spaniers Pacheco „In der Republik der Wölfe“ übersetzen, dann warnte der Spiegel vor allzu großer Wolfsverehrung: „Bis vor kurzem wurde die Rückkehr der Wölfe nach Sachsen noch gefeiert. Nach Attacken der Raubtiere haben die Bewohner der Lausitz nun Angst.“ Kürzlich rissen nämlich die „grauen Räuber“ in einer Nacht 27 Schafe, drei Tage später „sanken sechs Schafe in Mühlrose nach einer Blitzattacke tot zu Boden – und die Wölfe berauschten sich erneut am Blut“. Die Jugendministerien der Bundesländer gehen inzwischen so weit, die Internetsuchmaschinen-Betreiber dazu zu bewegen, „jugendgefährdende Worte“ in ihre Indizierungsliste aufzunehmen – wie etwa Wolfsrudel: „weil die Zeichenkette Wolf oft auf rechtsextremen Seiten auftaucht“, wie der Tagesspiegel erklärt.

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