Hoffnungskeime

Die Jean Gebser Gesellschaft tagt an der Bremer Uni zum Thema „Sprache und integrales Bewusstsein“

Gebser sieht überall evolutionäre Entwicklung am Werk, sowohl individuell als auch kollektivAll dies mag nüchtern und abstrakt klingen, aber es betrifft unser Leben bis hinein in die kleinsten Alltäglichkeiten

In einer Zeit, in der Deutschland gerade damit beschäftigt war, auf die größte kollektive Katastrophe seiner Geschichte zuzusteuern, gab es in der Schweiz einen jungen Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Keime der Hoffnung aufzuspüren in einer Welt, die zunehmend obszöner und erschreckender wurde: Jean Gebser, ein Kulturphilosoph.

Mithilfe von rekonstruktiven und historisch vergleichenden Methoden versuchte er, der kollektiven Entwicklung der Menschheit Würde und Sinn zu geben. Fast zwei Jahrzehnte lang beobachtete er die ihn umgebende Welt und betrieb ein intensives Studium von naturwissenschaftlichen, geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Quellen. Das Ergebnis war sein Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“, das erstmals 1953 erschien – und kaum beachtet wurde.

Beinahe zwanzig Jahre später, drei Jahre vor Gebsers Tod 1973, schien die Zeit endlich reif für eine Neuauflage. Diesmal fiel die Resonanz deutlich stärker aus, doch in dem Gebiet, in dem Gebsers Werk heute eine feste Größe sein sollte – also der Kulturwissenschaft – findet es weiterhin wenig Beachtung. Unter anderem, um diesen Missstand zu beheben, hat sich die Jean Gebser Gesellschaft gegründet, die am kommenden Wochenende an der Universität Bremen tagt.

Warum findet Gebser heute zwar in New Age-Kreisen großen Zuspruch, aber kaum in seiner „Heimatdisziplin“?

Nun, in einer Zeit, in der die meisten Kulturwissenschaftler vom „Ende der Geschichte“ sprechen, scheint Gebser nicht in Mode zu sein, – denn er sieht überall evolutionäre Entwicklung am Werk, sowohl individuell als auch kollektiv. Er geht von einer evolutionären Entfaltung des menschlichen Bewußtseins aus – von verschiedenen „Bewusstseinsmutationen“, wie er es nennt.

Fünf dieser großen Mutationen hat er ausgemacht: archaisch, magisch, mythisch, mental-rational und integral. Hat sich eine Bewusstseinsstruktur in der Vergangenheit einmal kollektiv etabliert, so wird sie zukünftig zum Grundbaustein individueller Entwicklung – ein Kind, das heute in eine mental-rationale Gesellschaft hineingeboren wird, durchläuft die ersten drei Strukturen bis hin zum Mental-Rationalen (übrigens eine Tatsache, die Gebser nachträglich von Entwicklungspsychologen wie Piaget bestätigt wurde).

Die gute Nachricht, die Gebser für uns alle hat, lautet: Das mental-rationale Bewusstsein ist mitnichten „das Ende der Geschichte“, denn Evolution geht stets über das Erreichte hinaus. Die neue Mutation, deren Anfänge Gebser bereits in den dreißiger Jahren ausmachte, wird die Beschränkungen des Mental-Rationalen aufheben, aber gleichzeitig seine eigenen Beschränkungen mit sich bringen. Diese neue Mutation ist das integrale Bewusstsein, das einen größeren Kontext erschließt und einen Zuwachs an Freiheit mit sich bringt – wenn man es angemessen interpretieren kann.

All dies mag – in dieser kurzen Zusammenfasssung - nüchtern und abstrakt klingen, aber tatsächlich ist es alles andere als das, sondern betrifft unser Leben bis hinein in die kleinsten Alltäglichkeiten. Die Gesellschaft tagt öffentlich. Neben den Bremer Professoren Otmar Preuß und Gert Sautermeister werden auch Prof. Peter Gottwald aus Oldenburg und Dr. Rudolf Hämmerli aus der Schweiz vortragen und sich darum bemühen, „die Keime des Neuen zu unterstützen in einer Welt, die viel Anlass zu Furcht und Sorge zu geben scheint.“ Tim Ingold

Tagung von Freitag (4. Oktober, Beginn 16 Uhr) bis Sonntag im Gebäude GW I der Universtität (gegenüber des „Universum“). Sonnabend und Sonntag jeweils ab 9 Uhr. Weitere Infos unter www.sprungchance.de/tagung sowie ☎(0421) 218 30 58