berliner szenen Taliban tanzt

Noch weit bis Karlsruhe

Welch tiefe Spuren die Ereignisse des 11. September in unser aller Seelen und gerade denen unserer Kinder hinterlassen haben, wird einem in Gänze erst deutlich, wenn man die abseitigen Winkel unseres Landes durchfährt. So z. B. neulich im Interregio zwischen Konstanz und Hamburg. Schwarzwälder Tannenwipfel. Nebelschwaden. Ruhe allenthalben, bis Triberg.

Eine Horde Kinder, wohl sechste Klasse, entert den Wagen. Stoßgebete helfen nichts, nur der Sichtschutz trennt uns. „Ich will neben Jenifer …“ – „Wie weit ist es noch bis Karlsruhe?“ Eine und eine viertel Stunde. Endlich sitzen alle und schon erklingen die ersten Lieder: von der Welle „La Ola“, „Im Frühtau zu Berge“. Hübsche Stimmen haben sie: Max, Melanie, Mustafa und die anderen. Und zur Talfahrt singen sie, fröhlich alliterierend: „Taliban, Tal i bahn, Tali, Tali Taliban! Taliban tanzt“. Und weiter: „O samá bin ladén“. Erinnert an einen Choral. Nun schreitet die Lehrerin ein. Aber Mustafa beharrt im besten Badisch: „Osama isch bei uns in Arabien aber ganz normal, mein Onkel heißt auch so.“ – „Jetzt wird sicherlich niemand mehr sein Kind so nennen.“ Mustafa bleibt skeptisch und die Lehrerin sucht nach Analogien. Zur Kollegin: „Ich überleg grad – wie hieß der Hitler mit Vornamen?“ – „Adolf, Sieg Heil.“ – „Jetzt ist gut, Max. Damit macht man keine Scherze.“

Mustafa erzählt den Witz vom Afghanen auf dem World-Trade-Center und dann geht es um Eastpak-Taschen. Halt in Offenburg: „Da ist einer aus Pakistan!“ Alle stürzen zur Scheibe: „Osama, Osama!“ Der Mann reagiert nicht, von links nähert sich ein Wehrpflichtiger in Uniform: „Ein Armeemann!“ Die Lehrerin korrigiert sofort: „Das heißt immer noch Soldat.“ Daran werden die Kinder sich schon gewöhnen.

CARSTEN WÜRMANN