Brasilianer sind reif für „Lula“

„Der Spielraum für rasche Verbesserungen ist in Brasilien geringer, als viele das eingestehen wollen.“

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit zieht Edir Valente mit einer riesigen roten Fahne der Arbeiterpartei PT durch Porto Alegre. Auf einem zentral gelegenen, weitläufigen Areal feiert die Parteibasis des Bundesstaates Rio Grande do Sul ihr größtes Wahlkampffest aller Zeiten. Hauptattraktion: Luiz Inácio „Lula“ da Silva, 56, haushoher Favorit für die brasilianische Präsidentenwahl am Sonntag. „Heute habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Lula es packen kann“, strahlt die pensionierte Lehrerin Valente, die seit der Gründung der PT vor 22 Jahren mit von der Partie ist. Sie gehört, so sagt sie stolz, zum „radikalen“ Flügel der Partei, der sich von einem Wahlsieg Lulas tief greifende soziale Maßnahmen erhofft, beispielsweise die immer wieder vertagte Landreform.

Langsam füllt sich der weitläufige Platz mit all jenen, die aus der 1,4-Millionen-Stadt selbst oder mit Bussen aus dem Hinterland gekommen sind. Ein bunter Querschnitt der Bevölkerung ist hier versammelt, von deutschstämmigen, blonden Landlosen über dunkelhäutige Jugendliche aus den Vorstädten bis hin zu Rentnerinnen wie Edir Valente. Als „Sympathisantin“ bezeichnet sich Maria Dornelles, eine allein erziehende Mutter, die als Haushaltshilfe einen Monatslohn von knapp 65 Euro bekommt und sich wie viele BrasilianerInnen nur mit Zusatzjobs über Wasser hält. „Lula kommt aus dem Volk, und er ist ehrlich“, sagt die temperamentvolle Schwarze. „Bei uns im Viertel haben die anderen Kandidaten keine Chance.“

Nach einem Jahrzehnt neoliberaler Reformen hat sich die Stimmung im größten Land Lateinamerikas gründlich gewandelt. Die Regierung von Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, seit knapp acht Jahren im Amt, bekommt schlechte Noten. Trotz einer konsequenten Sparpolitik und einem bescheidenen Wirtschaftswachstum ist die Auslandsverschuldung auf über 200 Milliarden Dollar angewachsen. Von 175 Millionen Brasilianern leben über 50 Millionen in Armut, 12 Millionen sind arbeitslos. Nirgendwo in Amerika ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer.

Zwischen Gaúcho-Volksmusik, dem „Mama Africa“ von Sänger Chico César und dem Großauftritt des Schlagerduos Zezé di Camargo e Luciano halten in Porto Alegre derweil Regionalpolitiker die Zuschauer bei Laune. Inzwischen drängen sich an die 100.000 Menschen auf dem Platz. Ein paar Musiker lassen den Wahlkampfjingle erklingen, der Platz verwandelt sich in ein Fahnenmeer. Jubel brandet auf, als Lula zusammen mit den Hauptrednern des Abends die Bühne betritt. Nach der inbrünstigen Intonation der Nationalhymne ergreift der schnauzbärtige PT-Gouverneur Olívio Dutra das Wort: „Wir haben es satt, Brasilien vor dem internationalen Finanzkapital knien zu sehen.“ Der millionenschwere Texilunternehmer José Alencar, der Vizepräsident werden möchte, ergänzt: „Keiner kennt dieses Land besser als Lula, nur er kann uns wieder auf den Weg der Entwicklung führen und uns unser verlorenes Selbstbewusstsein zurückgeben.“

Schließlich der Auftritt des Kandidaten. Die Menge skandiert „Brasil urgente – Lula Presidente“ („Brasilien, es drängt – Lula Präsident“). Im Gegensatz zu seinen Vorrednern verzichtet er auf starke Sprüche. Im Plauderton erzählt er, wovon er am selben Morgen die ausländische Journalistenschar in São Paulo überzeugen wollte: Anders als frühere Guerillabewegungen in Lateinamerika zeige die PT, dass der Wandel auf demokratischem Weg möglich sei. Nicht ohne Stolz fügt Lula hinzu: „Unsere Partei ist einzigartig auf der Welt“ – und macht den Gastgebern ein Kompliment: „Hätte die PT nicht schon 1988 in Porto Alegre gewonnen, wäre sie wohl kaum in der Lage, den Gouverneur und bald den Präsidenten zu stellen.“

Zwar vereint die unorthodoxe Linkspartei mit ihren Ursprüngen in der Gewerkschaftsbewegung der Siebzigerjahre noch immer Christen aus den Basisbewegungen, Trotzkisten und pragmatische Reformer unter einem Dach. Doch die tonangebende Strömung um Lula und den Parteichef José Dirceu hat aus ihr längst eine sozialdemokratische Volkspartei geschmiedet, die mittlerweile in fünf der 27 brasilianischen Bundesstaaten und in fast 200 Städten regiert. In Porto Alegre und anderswo hat sie durch das „partizipative Budget“ neue Kanäle für die Beteiligung der traditionell von der Macht ausgegrenzten ärmeren Bürger geschaffen. Bis auf wenige Ausnahmen gelten ihre Stadtverwaltungen als sparsam und nicht korrupt.

„Die Partei ist gereift“, stellt Lula fest, „und ich ebenso.“ Er verweist darauf, dass er nicht mehr aufbrausend sei, und anders als bei seinen bisherigen Präsidenschaftskandidaturen 1989, 1994 und 1998 Humor und Gelassenheit ausstrahle. Skeptiker sehen hinter dieser „neuen“ Persönlichkeit lediglich die Handschrift des Marketingprofis Duda Mendonça und beschwören die angeblich finsteren Ziele und Methoden des „revolutionären“ PT-Flügels. Doch die PT sei „angesichts der großen Niederlagen der Linken“ bescheiden geworden, meint Flávio Koutzi, die rechte Hand von Gouverneur Dutra. Der Spielraum für rasche Verbesserungen sei in Brasilien geringer, als sich das viele eingestehen wollten: „Wir werden zwar die Wahlen gewinnen, nicht aber die Hegemonie.“ Deshalb sei es auch unrealistisch, einen harten Bruch oder die Einstellung der Schuldenrückzahlungen zu erwarten.

„Keiner kennt dieses Land besser als Lula, nur er kann uns wieder auf den Weg der Entwicklung führen.“

Wohl auch aus diesem Grund kann es sich die brasilianische Oberschicht leisten, einem Sieg des einstigen Bürgerschrecks immer gelassener entgegenzusehen. Wenn sich der Trend der letzten Wochen fortsetzt, könnte Lula bereits am Sonntag im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt werden. In den letzten Umfragen lag er bei 49 Prozent der gültigen Stimmen, Regierungskandidat José Serra (s. Kasten) bringt es auf gerade einmal 22 Prozent. Chancen auf Platz zwei darf sich auch noch Anthony Garotinho (s. Kasten) ausrechnen. Der frühere Gouverneur von Rio ist die Überraschung der letzten Wochen. Ebenso wie der abgeschlagene Ciro Gomes und die beiden Kandidaten linker Splitterparteien versucht er, mit Kritik an Präsident Fernando Henrique Cardoso zu punkten.

Am Morgen nach der Wahlkampfparty trifft Lula im Sheraton-Hotel von Porto Alegre mit der Crème de la Crème der einheimischen, als besonders konservativ geltenden Unternehmerschaft zusammen. „Lula und die PT kommen mir ein wenig vor wie die Außerirdischen im Film ‚Signs‘,“ sagt ein Mittelständler aus der Elektronikbranche. „Ich weiß noch nicht so recht, ob sie Gutes oder Böses im Schilde führen.“ Auch nach dem einstündigen, „überaus freundlichen“ Meinungsaustausch traut er der Sache nicht so recht, bezweifelt, ob Diskurs und Handeln übereinstimmen werden. Wie so oft in den letzten Monaten hat Lula noch einmal das ganze Arsenal seiner wirtschaftspolitischen Argumente aufgefahren. Die Investoren interessierten vor allem die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, und die hätten sich in den letzten Jahren verschlechtert. Gegenüber dem Finanzkapital müsse die einheimische Industrie gestärkt werden. Verhandeln sei seine Stärke, das habe er seit seiner Zeit als Gewerkschafter immer wieder bewiesen. Gegenüber den USA und der EU werde er die Handelsinteressen Brasiliens „mit erhobenem Haupt“ vertreten.

Zwar stehen die meisten Banker und Industriellen naturgemäß noch immer im Lager von Cardoso-Kronprinz Serra. Doch der Ton gegenüber Lula ist respektvoll bis zuversichtlich geworden. „Ein klarer, gehaltvoller Diskurs“, lobt Luiz Fernando Feijó, ein Internetgrossist. „Wenn Lula ihn umsetzt, ist das ganz hervorragend für Brasilien.“ Ähnlich sieht das Sérgio Werlang, Direktor der zweitgrößten Privatbank Itaú: Viele ausländische Anleger hätten noch nicht erkannt, wie „vernünftig“ das Wahlprogramm der PT „unter makroökonomischen Gesichtspunkten“ sei.

Die Landeswährung Real hat sich zwar nach ihrem Rekordtief am vergangenen Freitag wieder leicht erholt, aber für Entwarnung ist es noch zu früh. Immer mehr Unternehmer geben offen zu, dass sie auf einen Sieg Lulas in der ersten Runde hoffen. So fragt Paulo Skaf, Vizepräsident des mächtigen Industrieverbandes von São Paulo: „Wozu sollen wir auf die Stichwahl warten? Um den Spekulanten noch mehr Gewinne zu verschaffen?“