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Die vergessenen Toten

In Hamburg sterben immer mehr Menschen, um die sich selbst nach dem Tod niemand kümmern will. Sie werden auf dem Öjendorfer Friedhof „zwangsbeigesetzt“ – ohne Feier, ohne Blumen, ohne Stein. Zuständig dafür ist die Umweltbehörde

Vor zehn Jahren gab es jährlich fünf oder sechs Zwangsbeisetzungen. Heute sind es 600.

von SANNAH KOCH

Sie sind meistens alt und sie sind arm. Und sie sterben einsam. So einsam, dass sich nach ihrem Tod keine Angehörigen finden, die für eine würdevolle Bestattung verantwortlich sein wollen. Und weil solche Fälle in der Hansestadt immer häufiger vorkommen, steigt auch die Zahl eines anderen traurigen Vorgangs stetig: Die Zahl der Zwangsbeisetzungen. Ein Wort, das selbst die ausführende Behörde ungern in den Mund nimmt.

Es klingt fast wie Hohn, doch für Zwangsbeisetzungen ist in Hamburg die Umweltbehörde zuständig. Ein Umstand, der einem Hamburger Bestatter das makabre Wort „Entsorgung“ in den Mund legt. GBI-Geschäftsführer Wolfgang Litzenroth findet es jedenfalls „beschämend, dass in einer der reichsten Städte Europas Menschen aus Spargründen auf diese Weise bestattet werden“. Doch das war nicht immer so.

Bis vor einigen Jahren war es in Hamburg noch üblich, dass verstorbene Sozialhilfeempfänger ohne Angehörige eine Sozialbestattung finanziert bekamen. Ein Begräbnis, bei dem, so betont Sozialbehördensprecherin Anika Wichert, der Standard einer normalen Beisetzung – Bestatter, Aufbahrung, Trauerfeier, Grabstein – auf schlichtem Niveau gewährleistet wurde.

Doch seit 1997 ist für diese Toten ausschließlich die Umweltbehörde als Aufsichtsbehörde über Hamburgs Friedhöfe zuständig. Und die von ihr durchgeführten Zwangsbeisetzungen sind mehr als schlicht – keine Blumen, keine Trauerfeier, kein Grabstein. Hamburgs vergessene Tote werden ohne Aufheben eingeäschert, die Aschenkapsel wird auf dem Öjendorfer Friedhof ohne Abschiedsgruß in einem anonymen Reihengrab beigesetzt.

Grund für den Wandel war ein sprunghaftes Ansteigen der Fallzahlen: Vor etwa zehn Jahren lag die Zahl der Zwangsbeisetzungen in Hamburg jährlich noch bei fünf oder sechs Fällen. Dabei handelte es sich meist um Obdachlose oder andere unbekannte Tote, sagt Jacqueline Kolaska, zuständige Mitarbeiterin in der Umweltbehörde.

Aber 1997 stieg die Sterberate jener mittellosen Alten in Hamburgs Pflegeheimen sprunghaft an. Knapp 300 Tote zählte die Behörde damals, bei denen keine Angehörigen gefunden werden konnten, die für die Kosten einer Bestattung aufkommen wollten. Diese Zahl hat sich bis heute mehr als verdoppelt. Das bedeutet, dass in Hamburg derzeit jeder 30. Sterbefall zwangsbeigesetzt wird. Nach Kolaskas Angaben ist heute fast eine „Schwemme“ von Toten in den Altenheimen zu verzeichnen, die von der Stadt zwangsbeigesetzt werden müssen.

Auf diesen Zuwachs reagierte die Sozialbehörde mit einer Änderung ihrer Bezuschussungspraxis: Verarmte Tote bekommen jetzt nur noch eine Sozialbestattung, wenn mittellose Angehörige einen Bestattungszuschuss beantragen. Sterben Menschen jedoch arm und einsam, werden sie ein Fall für die Umweltbehörde. Und wenn die Öjendorfer Friedhofsverwaltung zwei Wochen lang erfolglos nach Angehörigen geforscht hat, wird automatisch die formlose Zwangsbeisetzung eingeleitet.

Die spart rund 1000 Euro pro Sterbefall. „Wir müssen das so machen, denn wenn sich später doch noch Angehörige finden, können die sich weigern, für die Mehrkosten aufzukommen“, erklärt Jacqueline Kolaska, zuständige Mitarbeiterin in der Umweltbehörde.

Als „unwürdig“ bezeichnet GBI-Geschäftsführer Wolfgang Litzenroth hingegen dieses Verwaltungshandeln, das für ihn den „völligen Verlust von Trauerkultur in unserer Gesellschaft“ symbolisiert. Sabine Blum, Sprecherin des Öjendorfer Friedhofes, wehrt die Vorwürfe ab: „Ich empfinde Zwangsbeisetzungen nicht als würdelos.“ Doch sie räumt ein, dass man mit mehr Geld sicherlich mehr tun könnte. Das anonyme Rasenfeld am Schleemer Bach sehe ohne Blumen tatsächlich ein wenig traurig aus.

Als sehr positiv bewertet Blum deshalb eine Initiative des GBI, „Hamburgs vergessenen Toten“ auf dem Öjendorfer Friedhof ein Mahnmal zu spenden. Mit einer Bronzeskulptur der Hamburger Bildhauerin Ricarda Wyrwol, die den Namen „Die Beweinung“ trägt, will das GBI die anonyme Begräbniswiese schmücken. „Sie soll an diese Hamburger Bürger erinnern, die ohne Stein, ohne Blumen, ohne Abschiedsfeier und ohne Gebet beigesetzt wurden“, sagt Wolfgang Litzenroth.

Die Skulptur soll im Rahmen einer Gedenkfeier im November aufgestellt werden.

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