Wenn das Spielzeug Urlaub macht

Spielen ohne Spielzeug als Suchtprävention in der Kita

Merve und Ilias bauen eine Höhle aus Decken und Matratzen. „Für das Monster“, ruft der fünfjährige Ilias aufgeregt. Im Raum nebenan spielen ein paar Kinder Fangen. Bücher oder Bauklötze, Spiele oder Stofftiere sind in dem Frankfurter Kindergarten nicht zu sehen. „Das Spielzeug macht Urlaub“, erklärt die sechsjährige Hilay. „Die Ameisen“ machen beim „Spielzeugfreien Kindergarten“ mit, einem von EU-Gesundheitsexperten ausgezeichneten Projekt zur Suchtprävention im Kindergartenalter. Das Konzept basiert auf der Idee, dass die Kleinen später weniger suchtgefährdet sind, wenn sie schon früh Fähigkeiten wie Kreativität oder Kommunikationsfähigkeit entwickeln. Das sollen sie lernen, indem sie sich ohne Spielzeug beschäftigen müssen.

„Einige Kinder waren ein bisschen traurig, als das Spielzeug in den Urlaub fuhr“, erinnert sich Kindergärtnerin Carmen Cicek. Gemeinsam mit den Kindern haben die Erzieherinnen Puppen, Spiele und Bücher eingepackt und auf eine drei Monate lange Reise geschickt. Tags darauf waren einige Kinder sehr enttäuscht, als sie die leeren Gruppenräume betraten. Manche brauchten eine Stunde, bis sie zu spielen anfingen. Alle waren in den ersten Tagen in Bewegung, rannten herum oder rückten Möbel. „Das vermeintliche Chaos ist Ausdruck des Ausprobierens“, sagt die Leiterin der Frankfurter Fachstelle Prävention, Anne Jost.

Schon bald aber kamen Merve, Ilias, Hilay und die anderen Kinder auf neue Ideen: An einem Tag spielten sie Mumie, an einem anderen Prinzessin, Geburtstag oder Tiger und Löwe. Quer aufgestellte Matratzen wurden zu einer Baustelle, zwei Stühle vor dem Waschbecken zum Friseur-Salon. „Das ging bei den Ameisen sehr schnell“, lobt Jost. „Es gibt auch Kitas, wo die Kinder erstmal vier Wochen nur toben und die Teams schon ganz verzweifelt sind.“ Das müssen die Erzieher aushalten. Denn gerade die ungewohnte Leere soll den Kindern Freiraum bieten, kreativ und damit selbstsicherer zu werden. Das Anfang der 90er Jahren von einem bayerischen Suchtarbeitskreis entwickelte Projekt hat über Deutschland hinaus Schule gemacht. Mancher Einzelgänger sei richtig aufgeblüht und habe plötzlich Freunde gefunden, erzählt Cicek. „Viele haben sich früher hinter dem Spielzeug versteckt wie hinter einem Schutz.“ Auch für viele Eltern sei es eine Umstellung, wenn ihr Nachwuchs zu Hause plötzlich mehr Aufmerksamkeit verlange, sagt Jost. Längst nicht alle Eltern seien von dem Projekt begeistert: Mütter und Väter von Vorschulkindern fürchteten, die Kleinen lernten zu wenig.

Manche Kindergärten lassen die Kinder bestimmen, welches Spielzeug nach den drei Monaten die Heimreise antreten soll. Dabei werde meist nicht mal ein Drittel zurückgefordert, sagt Jost. Die spielzeugfreie Zeit verändert nicht nur die Kinder, sondern auch die Pädagoginnen. „In die Alltagsroutine ist neuer Schwung eingekehrt“, bilanziert Gülten Köksal. Ira Schaible