: Den Krakenarmen entkommen
20 Kilometer südlich von Istanbul liegen die Prinzeninseln, eines der nobelsten und schönsten Naherholungsgebiete der Levante. In dem traditionellen Badeort haben sich wohlhabende Istanbuler in idyllischen Holzhäusern niedergelassen
von GERO GÜNTHER
Yildiz klappt das Handy zu und jauchzt: „Es hat geklappt! Wir kriegen sie, wir kriegen die Kutsche von Celik Gülersoy.“ Das Angebot, das mir der Vorsitzende des türkischen Touringclubs während des Interviews gemacht hatte, war also wirklich ernst gemeint. Hurra! Im schönsten Einspänner der Insel werden wir durch die Straßen von Büyükada rattern.
„Ich weiß, es ist kindisch“, sagt meine Begleiterin, „aber alle auf der Insel werden uns beneiden. Diese Kutsche ist wirklich eine Wucht!“ An das Gefühl, beneidet zu werden, dürfte Yildiz Caprak gewöhnt sein – immerhin gehört die smarte Karrierefrau zu den Glücklichen, die über einen Sommersitz auf den Prinzeninseln verfügen, einem der nobelsten Naherholungsgebiete der Levante.
Früher wurden byzantinische Patriarchen und Prinzen auf die Inseln verbannt, Mönche und ein paar Fischer lebten hier in völliger Abgeschiedenheit. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten ausländische Geschäftsleute und Botschafter, reiche Türken, Armenier, Juden, Griechen und Weißrussen die Prinzeninseln als Bade- und Ferienort; heute lassen es sich wohlhabende Istanbuler in den eleganten Holzvillen gut gehen.
Inzwischen ist unser Dampfer an der weißen Art-déco-Bootsanlegestelle von Büyükada, der größten Insel des kleinen Archipels, angekommen. In 30 Minuten – so die telefonische Auskunft von Celik Gülersoys Sekretär – wird unser pferdegetriebenes Luxusgefährt auf dem Kutschparkplatz der autofreien Insel einstiegsbereit sein.
Zeit für einen kleinen Spaziergang durch das Hauptdorf: Die Sonne scheint, die Fischverkäufer haben sich längst heiser geschrien und in den Auslagen der kleinen Läden glänzen frisches Gemüse und Plastikspielzeug. In den Cafés sitzen elegant gekleidete Damen mit frisch gelegten Haaren, ein paar Jungs flitzen auf Mountainbikes über den Platz.
„Ich habe hier schon als Kind jeden Sommer verbracht“, erzählt Yildiz, „und jetzt wächst meine Tochter in Büyükada auf.“ Ein Sommer ohne Insel ist für die Topmanagerin ein verlorener Sommer. Als sie die heißen Monate im vergangenen Jahr aus beruflichen Gründen in Paris verbringen musste, sei sie allen Kollegen mit ihren Inselgeschichten auf die Nerven gegangen. „Die haben schon gedacht, ich bin total verrückt!“
An der Ruhe und Exklusivität des 5,4 Quadratkilometer großen Eilands können auch die Ausflügler nichts ändern. Mit Kutschen und Fahrrädern erkunden sie die gezähmte Natur – von den abgesteckten Pfaden weichen die wenigsten ab. Man spaziert ein bisschen herum, badet und lässt es sich in einem der zahlreichen Fischrestaurants schmecken.
„Sie sind ganz ruhig und stören uns nicht“, sagt Yildiz. Vom echten Büyükada-Feeling jedoch, dem paradiesischen Zustand der Sommerfrischler, können die Tagestouristen nur träumen.
Yildiz lässt ihren Blick über den Platz schweifen. 250 Kutschen gibt es auf Büyükada, ungefähr 40 davon stehen hier parat. Hufe scharren, Spatzen tschilpen, es riecht nach Manege. „Schau sie dir an“, lacht die Insulanerin, „schau dir diese Droschke an.“ Klein, aber fein ist Celik Gülersoys Kutsche, silbernes Trittbrett, weiches Polster, weiße Speichen, zurückgeklapptes Verdeck. Voller Ehrfurcht steigen wir ein, legen die Ellbogen auf die Seitenstützen – und los geht’s! „Danke, Celik Gülersoy“, murmelt Yildiz. Wer dieser Celik Gülersoy eigentlich ist? Reich, gebildet und polyglott ist unser Gönner, ein Gentleman des alten Schlages. Seine Lebensaufgabe sieht der betagte Historiker, Hotelier, Dichter und Präsident des türkischen Automobilclubs darin, der Nachwelt möglichst viele historische Gebäude, Plätze und Parks in und um Istanbul zu erhalten.
Keine leichte Arbeit, angesichts Bevölkerungsexplosion und Bauwut, korrupter Politiker und einer islamistischen Stadtregierung, die jüngst fast alle Touringprogramme torpediert hat. Umso mehr hängt Gülersoy an den Prinzeninseln: „Was Istanbul längst verloren hat, wird auf den Inseln bewahrt“, hat er mir bei Tee und Kuchen erzählt: „Das betrifft einerseits“, erläuterte er in fließendem Deutsch, „all die wunderbaren Grünanlagen und Gärten. Und andererseits die traditionelle Architektur, vor allem unsere Sommerresidenzen aus Holz.“
Selbige ziehen gerade an Gülersoys quietschender Leihgabe vorbei. Mal ganz in Weiß, mal mangofarben oder dunkel gebeizt, mal Jugendstil, dann Rokoko oder alla turca. Villen, Villen, Villen. Eine schöner als die andere. So viele Erker, Säulen, Balkons, Patios und Veranden. Zwischendrin einige modernistische Bungalows, ein italienischer Palazzo, der ehemalige englische Yachtclub. „Wunderbar“, seufzt Yildiz, „ist sie nicht wunderbar, meine Insel?“
Biarritz, denke ich, Büyükada sieht aus, wie noble französische Badeorte vor 70, 80 Jahren ausgesehen haben müssen: ein Traum aus rosa Blüten, Korbmöbeln und stolzen Yachten. Ein bukolisches Idyll samt Pinien, Palmen und Pferdeäpfeln.
Yildiz wechselt ein paar Worte mit dem Kutscher. Ich glaube das Wort „Schlotzky“ verstanden zu haben. Wenig später bleibt unser Fiaker stehen. Hundert Meter unterhalb der Straße, direkt am Ufer des Marmarameers steht ein verfallenes rotes Steinhaus im neogotischen Stil. Schlingpflanzen ranken sich an der bröckelnden Fassade empor, Äste wuchern durch das eingestürzte Dach. „Hier hat Leo Trotzki von 1929 bis 1933 gelebt“, erklärt die Frau an meiner Seite, „kein schlechter Ort für eine Verbannung, was?“
Und weiter geht’s durch duftende Wälder und blühende Wiesen zur höchsten Erhebung, die man einem Kutschpferd zumuten kann. Von hier aus wandern Yildiz und ich zu Fuß zum griechisch-orthodoxen Georgskloster. Die Kirche ist mit Ikonen und Reliquien voll gestopft, von der Decke baumeln bonbonfarbene Lüster. Nicht jedermanns Geschmack, aber die Aussicht vom 205 Meter hohen Yücetepe ist herrlich: Unter uns dösen die Prinzeninseln im glatten Meer, ein paar Segelboote kämpfen mit der Flaute, und drüben am dunstigen Ufer breitet der Istanbuler Moloch seine Krakenarme aus.
Mit dem Finger deutet Yildiz auf eine abenteuerliche Konstruktion, die auf dem Nachbarhügel in den letzten Atemzügen liegt. Ein Graf namens Moris Bostari hat das Monstrum vor 100 Jahren als Hotel erbaut. Statt zahlender Gäste beherbergte der Komplex einige Jahrzehnte lang griechische Waisen, heute steht er leer. Die Japaner, so sagt man, warten inständig darauf, dass das Gebäude möglichst bald in sich zusammenfalle, damit Japan endlich wieder die Ehre zuteil werde, das größte hölzerne Gebäude der Welt zu besitzen.
Gülersoys Pferd ist inzwischen gut erholt und bereit, uns entlang einer Steilküste von amalfitanischer Güte zum Südzipfel der Insel zu ziehen. Früher tummelten sich hier die Dichter, um die Schönheiten von Büyükada zu besingen, heute dienen die Haine als Picknickplatz. Auch Yildiz kommt natürlich wieder ins Schwärmen: Voller Begeisterung erzählt sie von der familiären Atmosphäre auf der Insel, davon, dass sie ihre Tochter überall spielen lassen kann, von den Grillfesten mit ihren jüdischen, holländischen und armenischen Freunden und vom Gemischtwarenhändler, der einem die Ware ins Haus bringt. „Bezahlt wird wöchentlich. Wir funktionieren hier quasi bargeldlos.“
Klingt beneidenswert, klingt nach einem stressfreien, sorglosen Dasein. Aber wie sorglos kann das Leben eigentlich sein, wenn man direkt auf einer Erdbebenspalte residiert? Seismologische Untersuchungen haben die horrenden Grundstückspreise auf den Inseln purzeln lassen. Der bisher unerreichbare Traum eines Häuschens auf Büyükada rückte plötzlich für ganz normale Reiche in geradezu greifbare Nähe. Verändert hat sich trotzdem nicht viel. Überzeugte Insulaner halten daran fest, dass sie auf Büyükada sicherer sind als in der dicht bebauten Metropole. „Fast alle Häuser sind aus Holz, es gibt hier viel mehr Platz zwischen den Gebäuden, und hoch sind sie auch nicht, unsere Villen“, hatte Celik Gülersoy abgewiegelt und hinzugefügt: „Ein Erdbeben, sehen Sie, ein Erdbeben ist eine bloße Eventualität.“ Aber wie steht es mit Tsunami-Wellen? Mit Flutkatastrophen? Yildiz winkt ab: „Ich habe Bücher und Fachzeitschriften gelesen, ich habe mit Seismologen gesprochen. Eine Tsunami-Welle wird es nicht geben. Das Marmarameer ist ja kein offenes, sondern ein geschlossenes, kleines Meer.“
Beruhigt lehne ich mich in unserer Droschke zurück. Huch, was ist das denn? Zu unserer Rechten zieht eine Reihe slumähnlicher Behausungen vorbei. Zerlumpte Kinder, matschige Wege, Plastikplanen. Yildiz bemerkt meinen irritierten Blick: „Hier sind die Pferde von Büyükada untergebracht.“ Aber nicht nur die Pferde, sondern auch die Kutscher mit ihren Familien. „An dieser Stelle der Insel gibt es noch viel zu tun“, sagt sie diplomatisch, ehe wir wieder ins Dorf mit seinen weißen Villen rollen.
Die Tour ist zu Ende, das Pferd freut sich, Yildiz tippt eine Nummer in ihr Handy. „Schatz, du kannst dir nicht vorstellen, mit wessen Kutsche wir gerade um die Insel gefahren sind!“
Die Prinzeninseln sind vom asiatischen Teil Istanbuls mit günstigen Fähren in circa 40 Minuten erreichbar.Zur Bootsanlegestelle von Bostanci kommt man vom Zentrum aus mit Sammeltaxis oder Bussen.Vom zentralen Fährhafen in Eminönü dauert die Dampferfahrt circa 90 Minuten.Kutschen und Räder kann man gleich neben der Bootsanlegestelle mieten. Hier befinden sich auch eine ganze Reihe vorzüglicher Fischrestaurants. Unbedingt sehenswert ist auch das vom türkischen Touringclub betriebene Kulturzentrum in einer restaurierten italienischen Villa. Cankaya Caddesi 21
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