stefan kuzmany über Alltag
: Ein Leben unter Beobachtung

Manchen Nachbarn sollte man nie seinen Schlüssel geben. Auch dann nicht, wenn der Gasinstallateur kommt

Jeden Morgen, wenn ich meine kleine Wohnung verlasse, um frischen Mutes bei einer kleinen Zeitung kleine Brötchen zu verdienen, mache ich eine erstaunliche Erfahrung: Meine Nachbarin von unterhalb hat exakt denselben Tagesablauf wie ich. Egal, ob ich um kurz nach halb neun an ihrer Tür vorbeikomme oder ob ich mal früher dran bin oder ob ich um halb zehn die Treppe hinab stolpere – in dem Moment, in welchem ich an ihrer Wohnungstür vorbeigehe, steht Frau Tulpin im Türrahmen. Manchmal hat sie einen Mantel an, manchmal einen Müllsack in der Hand, manchmal trägt sie nur ihren Morgenrock. Wenn wir uns begegnen, begrüßen wir uns kurz, Frau Tulpin folgt mir die Treppe hinab und lässt mich erst wieder aus den Augen, wenn ich das Haus verlassen habe.

Frau Tulpin mag jetzt Anfang siebzig sein. Angeblich ist sie verheiratet, ich bezweifle das aber. Herr Tulpin könnte auch eine Attrappe sein, eine Schaufensterpuppe mit der Gestalt eines älteren Mannes, der sich, bekleidet mit einem Feinripp-Unterhemd, über eine Balkonbrüstung beugt. Ich weiß nicht, ob es solche Schaufensterpuppen gibt und was man damit bewerben könnte. Außer Feinripp-Unterhemden. Noch weniger weiß ich, ob es Herrn Tulpin wirklich gibt. Anders als in erstarrter Haltung am Balkon habe ich ihn fast niemals gesehen. Aber dazu später.

Eigentlich hat Frau Tulpin überhaupt nicht denselben Rhythmus wie ich. Sie ist nur neugierig. Hatte ich Besuch über Nacht? Habe ich einen Müllsack dabei und beabsichtige ich, den Müll getrennt den dafür vorbestimmten Tonnen zu überantworten? Sehe ich ausgeschlafen aus oder versoffen? Bin ich etwa der Mensch, der dem Typen von ganz oben, der immer so lange schläft, Woche um Woche Die Zeit aus dem Briefkasten klaut? Frau Tulpin hat einige Ermittlungsverfahren am Laufen. Und ich scheine in den meisten der Hauptverdächtige zu sein.

Unser Verhältnis ist schon seit meinem Einzug kühl. Der Kumpel, der den Umzugswagen fuhr, fand keine bessere Möglichkeit, als den Laster direkt auf dem Gehsteig vor der Wohnungstür zu parken – ein breiter Gehsteig wohlgemerkt, so dass zwischen Laster und Wand auch noch ein Kinderwagen passte. Dem Ehepaar Tulpin, das unser Parkmanöver vom Balkon aus beobachtete, reichte das nicht. „Sie! Das geht so nicht! Sie müssen da wegfahren!“, rief Frau Tulpin mir ein ums andere Mal zu, die ganze halbe Stunde lang, die wir brauchten, den Wagen auszuräumen. Ihr Attrappengatte auf dem Balkon schwieg. Als wir fertig waren, kam die Polizei.

Unser Verhältnis hat sich seither zwar etwas entspannt, aber Freunde sind wir nicht geworden. Umso zögerlicher war ich, als Frau Tulpin vor einigen Wochen nach meinem Wohnungsschlüssel verlangte. Es sollten nämlich die Gasthermen im ganzen Haus ausgebaut und neue eingebaut werden. Die alten stammten von kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, schluckten viel zu viel Brennstoff und waren marode. Mehrmals hatte mich Frau Tulpin deshalb sogar abends aufgesucht. Immer kurz nach meiner Heimkehr, die sie ja genau im Blick hatte, klingelte sie an der Tür und erinnerte mich nochmals an den Termin mit dem Installateur, weil wir ja sonst bald alle in die Luft flögen, und ob ich denn auch da sei und wenn an meiner Anwesenheit auch nur der geringste Zweifel bestünde, könne sie doch den Wohnungsschlüssel … Ich blieb standhaft, einen Abend, zwei, auch am dritten. Aber wollte ich mir wirklich einen ganzen Tag freinehmen, nur, um einen Installateur und seinen Assistenten einzulassen?

Am vierten Abend ihrer Gasexplosionslitanei schlug ich Frau Tulpin einen Kompromiss vor: Ich würde die Handwerker um neun Uhr hereinlassen und diesen dann den Schlüssel geben. Nach getaner Arbeit sollten sie die Wohnung gut verschließen und den Schlüssel bei Frau Tulpin abgeben, wo ich ihn mir abends dann wieder abholen würde. Frau Tulpin gefiel die Idee. „Ich gehe ja nicht in Ihre Wohnung“, sagte sie zum Abschied – was mich stutzig machte, schließlich war davon überhaupt nicht die Rede gewesen.

Das ungute Gefühl verstärkte sich am nächsten Tag. Früher als gewöhnlich verließ ich meinen Arbeitsplatz und kehrte heim. Ich klingelte bei den Tulpins, um meinen Schlüssel abzuholen. Doch das Unmögliche war geschehen: Das Ehepaar Tulpin war nicht daheim. Auch ihr Balkon war leer. Was tun? Ich klingelte bei dem Typen, der ganz oben wohnt und immer so lange schläft, dass ihm Die Zeit aus dem Briefkasten gestohlen wird. Ich wollte ihn fragen, ob ich bei ihm auf die Rückkehr der Tulpins warten könne. Als ich gerade an meiner Wohnung vorbei die Treppen hochsteigen wollte, hörte ich von drinnen ein Geräusch. Ich setzte mich auf den Treppenabsatz und wartete.

Nach fünf Minuten war es so weit. Mit einem Knarzen öffnete sich meine Wohnungstür. Heraus trat das Ehepaar Hans und Helga Tulpin. In den Augen Letzterer flackerte Schrecken auf, als sie mich sah. Wie ein heißes Kohlenstückchen warf sie mir wortlos meinen Wohnungsschlüssel zu und raste die Treppe hinab. Hinterdrein ihr treuer Gatte, der allerdings noch einmal stehen blieb und sich zu mir umdrehte. Zum ersten und einzigen Mal hörte ich Hans Tulpin mit knarzender, doch fester Stimme sagen: „Sie sollten sich schämen.“ Dann verschwand er.

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