: Präventivkrieg darf jeder führen
Was die USA mit dem Irak können, kann Indien mit Pakistan erst recht. Vor allem, seit die Angriffe eventuell von Pakistan unterstützter islamistischer Rebellen in Kaschmir wieder stark zunehmen. In Delhi wächst jetzt die Bereitschaft zum Krieg
aus Delhi BERNARD IMHASLY
Kommt US-Präsident Bushs Irakdoktrin eines Präventivkriegs zur Anwendung, noch bevor er sie in Irak eingesetzt hat? Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat argumentiert, dass Indien dasselbe Recht gegenüber Pakistan geltend machen könnte. Es sollte nicht lange dauern, bis die indische Regierung dieses Recht auch einforderte. Jaswant Singh, früher Außen- und heute Finanzminister, erklärte diese Woche in Washington, die Doktrin des Präventivschlages sei nicht ein Sonderrecht eines einzelnen Staats. „Präventivaktionen sind das Recht jedes Staats, eine Verletzung seiner selbst zu verhindern“, sagte Singh. Auf einen konkreten Fall wollte er sich nicht einlassen, schloss aber das Verhältnis Indiens zu Pakistan ausdrücklich nicht aus.
Singhs Aussage ist mehr als die Feststellung einer Tatsache. Sie spiegelt die wachsende Frustration Indiens gegenüber dem „grenzüberschreitenden Terrorismus“ seines Erzfeindes Pakistan wieder. Vier Monate nach General Musharrafs Versprechen, keine kaschmirischen Befreiungskämpfer mehr über die Grenze zu lassen, stellt Indien eine stetige Zunahme von Infiltrationen fest und ist weitgehend machtlos, sie zu unterbinden. Musharraf wies entsprechende indische Vorwürfe zunächst zurück – angesichts der wachsenden Beweise, etwa Erklärungen militanter Gruppen selber, lässt er nun aber immer öfter durchblicken, „eine kleine Zahl von Grenzübertritten finde vielleicht statt“. Aber man könne nicht erwarten, dass Pakistans Truppen dagegen etwas ausrichten könnten, wenn selbst die indische Millionenarmee machtlos sei. Er wies auch den indischen Vorwurf zurück, dass ein Grenzübertritt der Rebellen ohne logistische Hilfe der pakistanischen Armee nicht möglich sei.
Die Infiltration militanter Rebellen aus Pakistan hat seit Beginn der Regionalwahlen in Kaschmir stark zugenommen. Seit Beginn des Wahlkampfs Ende August sind in Kaschmir über 350 Personen der Gewalt zum Opfer gefallen. Besonders betroffen ist die Grenzregion Poonch, wo die Waffenstillstandslinie kreuz und quer durch stark hügeliges Gelände verläuft und daher schwer zu sichern ist. Laut indischen Militärquellen in Delhi kommt es dort jede Nacht zu Übertritten von Gruppen von 12 bis 14 Mann. Indische Nachtpatrouillen, die in dieser Topografie leicht in einen Hinterhalt geraten, sollen inzwischen aufgegeben worden sein: „Nach sechs Uhr abends sendet kein Offizier seine Leute hinaus“, gibt der Verteidigungsexperte Rahul Bedi die Stimmung wieder. Das islamistische Attentat auf einen Hindutempel in Gujarat am 24. September hat zudem gezeigt, dass der Untergrund seine Ziele auch im restlichen Indien beinahe beliebig aussuchen kann.
So wächst in Indien erneut die Bereitschaft zu einem kriegerischen Konflikt. Die Frustration richtet sich aber nicht nur gegen Pakistan, sondern sind auch gegen die USA. Es sei Washington nicht gelungen, seinem Verbündeten Musharraf Zügel anzulegen, heißt es in Delhi. „Realpolitik zwingt die USA, Kaschmir zweite Priorität einzuräumen“, sagt der Kolumnist Prem Jha. „Vorrang hat nach wie vor der Kampf gegen al-Qaida und die Taliban, und dafür ist Musharraf unerlässlich.“ Vor einigen Tagen sah sich Indiens Premierminister A. B. Vajpayee zu der Bemerkung veranlasst, letztlich könne sich Indien auf niemand verlassen und müsse seinen Kampf gegen den Terror alleine führen.
Es gibt wenig Optionen in der Wahl der Mittel dafür. Die geringsten Erfolgschancen sehen Beobachter in Delhi in einer politischen Lösung. Die Fortführung des blutigen Kleinkriegs ist am wahrscheinlichsten. Doch mit der Zunahme von zivilen Opfern, namentlich außerhalb Kaschmirs, erhöht sich der politische Druck, eine militärische Lösung ins Auge zu fassen. Ein regelrechter Krieg wird wegen des nuklearen Eskalationsrisikos vorläufig noch nicht offen diskutiert. Stattdessen wird wieder punktuellen Angriffen das Wort geredet, von Kommandoaktionen auf pakistanische Objekte bis zu Terrorakten. Die Ansicht, dass „Indien für jeden Anschlag Pakistans mit vier auf dessen Boden reagieren“ müsse, ist heute selbst unter indischen Journalisten zu hören.
Dies erklärt Jaswant Singhs Beanspruchung der „Bush-Doktrin“ für sein Land. Bei der Frage eines US-Präventivschlags gegen Irak besteht Delhi zwar auf einem Mandat des UNO-Sicherheitsrats. Aber Diplomaten in Delhi bleibt nicht verborgen, dass Indien trotz seiner alten Freundschaft mit Bagdad bisher sehr leise aufgetreten ist, wenn es darum ging, die Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen zu verteidigen, seien es jene Iraks oder Pakistans. Dessen Präsident Musharraf wird denn auch nicht müde, den Nachbarn vor einem „Abenteuer“ zu warnen. Der Londoner Sunday Times erklärte er letzte Woche, Pakistan sei nicht Irak. „Falls Indien es dennoch glaubt, hat es sich verrechnet.“
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