„Ein Land mit klarer Stimme“

Der litauische Literaturwissenschaftler Andrus Labulis über Pferde und Schrittfehler

„Wir hätten weitaus weniger soziale Probleme, wenn wir mit Flügeln ausgestattet wären.“

taz: Herr Labulis, was zeichnet die litauische Literatur besonders aus? Was unterschiedet sie maßgeblich von der Literatur anderer Länder?

Andrus Labulis: Eine gute Frage. Bei uns gibt es einen anderen Literaturbegriff als anderswo. Wir unterteilen nicht in „Sachbuch“ und „Belletristrik“. Wenn wir Prosa erkennen, dann auch in einem Buch, das bei Ihnen wahrscheinlich als Sachbuch vermarktet würde – egal, wie schön seine Sprache ist.

Gibt es denn bei Ihnen viele Bücher, die diesen Kriterien entsprechen?

Selbstverständlich. Nehmen Sie „Schrittfehler ins Verderben“ zum Beispiel …

das neue Buch von Bonfa Liebervoje …

Ich bin fest überzeugt, dass dieses Buch außerhalb Litauens als simples Sportbuch verstanden würde, als fachliche Anleitung für fortgeschrittene Basketballer. Selbstverständlich ist es aber genau das nicht. „Schrittfehler ins Verderben“ behandelt die großen klassischen Themen: Hingabe, Irrtum, Tragik – und Aufklärung, nicht zu vergessen.

„Schrittfehler ins Verderben“ behandelt – immerhin ein ausführliches Kapitel lang – die Wahl des richtigen Sportschuhs. Ist das typisch für die litauische Literatur?

Eine komische Frage. Ja! Sie müssen den Text nur genau lesen. Denn worum geht es bei der Wahl des Schuhs?

Erklären Sie es bitte.

Gar keine Frage: Der Schuh trägt uns durch das Spiel! Wenn er nicht gut ist, wenn er unsere Sprünge nicht befördert, dann ist er … – bei uns in Litauen sagt man, frei übersetzt: ein krankes Pferd unter den Sohlen.

Ein Klotz am Bein?

Hervorragende Nachfrage! Ja, ein Klotz am Bein. Sehen Sie, der Mensch will doch eins: Er will Sprünge machen, vorankommen. Der Mensch will sich entwickeln! Und er will dies mittels seines Wesens, seiner Körperlichkeit. Sicher, wir sind inzwischen auf den Mond geflogen – aber wie? Mit Hilfe einer monströsen Apparatur, denn der Mensch kann nicht fliegen. Dass es überhaupt zu der Mondlandung kam, war schieres Glück. Denken Sie an die Challenger. Doch der Mensch will fliegen! Könnte er fliegen, wäre er vollkommen. Er kann es nicht. Sie können es nicht, ich kann es nicht – das macht uns traurig. Gerade in Litauen weiß man das, in unserem kleinen Land. Könnte der Mensch fliegen, er wäre vielleicht endlich glücklich. Er wäre perfekt, und wir hätten sicherlich weitaus weniger soziale Probleme, wenn wir mit Flügeln ausgestattet wären.

Wenn wir Engel wären?

Fragen Sie mich etwas Leichteres (kichert). Jedenfalls glaube ich, dass wir unser Heil dann nicht mehr in selbst gekeltertem Kartoffelwein suchen müssten.

Hat denn aber diese Flugtheorie bei „Landschaften mit Pferden“ von Alfredas Neda noch Bestand? In diesem Roman preist der Autor doch ausdrücklich die Bodenständigkeit …

Als Resultat! Als Ergebnis einer Reflexion! Vergessen Sie bitte nicht, in welcher Zeit „Landschaften mit Pferden“ seinen Ausgang nimmt! Da ist die Übermacht der Sowjetunion, der endliche Alltag – wann und vor allem wie, bitte schön, soll da überhaupt jemand fliegen können?

Herr Labulis, weshalb kreist die litauische Literatur so beharrlich um die Themen Pferde und Schuhe?

Eine einfältige Frage. Wofür stehen denn das Pferd und der Schuh? Na?

Für die Bewegung, das Fortkommen?

Jetzt freue ich mich sehr. Sie haben das Wesen der litauischen Literatur erkannt – seine klare Stimme.

In „Schrittfehler ins Verderben“ evoziert ein Basketballspieler den Untergang einer Kleinstadt; „Landschaften mit Pferden“ endet mit einer Eloge auf den Verzicht; „Oslo, Ohnmacht“ von Karja Jonssen, über das wir noch gar nicht gesprochen haben, legt nahe, dass nur eine Gesellschaft ohne Liebe und Butterkäse überleben kann. Wo bleiben da die Sprünge, das Vorankommen?

Das habe ich mich auch bei der Lektüre dieser Novelle gefragt. Ihr liegt ein seltsamer Stillstand zugrunde. Ich glaube aber, genau dieses bewusste Auslassen der traditionellen Sujets – Pferde, Schuhe, Kartoffelwein –, diese grausame Lückenhaftigkeit, macht dem Leser deutlich, was er vermisst. Jonssen lässt ihn also ganz allein, aber nicht ohne Hoffnung: das Schlusskapitel, behandelt, wie Sie ja wissen, einen Flug von Moskau nach Oslo, unsere Hauptstadt. So bleiben auch unsere jungen Autoren der litauischen Seele verwandt – oder anders gesagt: Sie sind eben Litauer, und sie werden weiterhin versuchen, einen Korb zu machen.

Herr Andrus Labulis, wir danken Ihnen für das Gespräch.

INTERVIEW:

CAROLA RÖNNEBURG