: Die Strategiejahre des Herzens
Was bleibt nach Coming-out, sexueller Freizügigkeit und der Suche nach dem eigenen Gender-Weg noch für das Kino übrig? Das 18. LesbenFilmFestival Berlin im Arsenal spielt mit Soap-Klischees und stellt Prostitution auf harten ökonomischen Boden
von MANFRED HERMES
Das „LesbenFilmFestival Berlin“ hat sich zu einem wichtigen europäischen Standbein lesbischer Selbstversicherung im Film entwickelt. Mit über 100 Beiträgen deckt es einen riesigen Bereich an Themen und Fragen zwischen Spaß-, Bekenntnis- und Theoriekultur ab.
Immer noch ist das Coming-out als entscheidende Krise der sexuellen Identifikation ein wichtiger thematischer Angelpunkt. Doch nur noch selten braucht es traditionalistische Gegensätze wie das Erntedankfest in „Backseat Detour“ von Allie Sultan – klassische Elternduos sind ohnehin kaum noch existent. Häufiger haben allein erziehende Mütter das Sagen. Folglich sind sie die Autorität, der schweren Herzens gebeichtet werden muss, wie in „You 2“ von Pascale Simons, die dieses Szenario in eine surinamische Nachbarschaft Amsterdams verlegt. Das Ende muss keineswegs eines mit Tränen und Schrecken sein: Zwar lässt die Mutter in „Size Em Up“ von Christine J. Russo nicht locker, bis sie ihre Tochter in der Dessousabteilung auf den korrekten Gender-Weg gebracht hat. Die aber findet am BH dann unerwartet erotische Seiten.
Kaum haben die neuen Mütter die Situation geschluckt, neigen sie auch schon zur Übererfüllung des Solls, schwingen sich zu Lebensberatern auf und raten ihren Töchtern zum Kurzhaarschnitt oder extremen Butch-Styles („Your Better Butch Fashion“ von Margaret Broucek). Auch im Spielfilm „A Family Affair“ von Helen Lesnick ist die Mutter eine treibende Kraft in der schwullesbischen Community der Stadt und verkuppelt ihre etwas versnobte Tochter mit einer blonden kalifornischen Traumfrau – was die nicht lustig findet. Lesnick, die als Autorin auch die Hauptrolle spielt, wählt verdrehte Augen, Zunge in der Backe und einen bissigen Ton als Mittel der Selbstinszenierung. Es ist fraglich, ob sich das zur Letztbegründung minderheitlicher Positionen noch eignet, da sich dieses Auftreten als Kampfform von Sitcom-Personen doch ziemlich verbreitet hat, und vielleicht ist das ein Erfolg. Mit „The Complex“ läuft auf dem Festival sogar der Pilot einer geplanten Soap über fünf modische Lesben in einem Hollywood-Apartmenthaus, die als komplette Serie alles andere als utopisch ist.
Hier müsste sich zeigen, dass der dem Coming-out folgende Lebensabschnitt auch nicht so lustig und womöglich von noch größeren Härten geprägt ist. Auf dem Weg zu schnellem Sex oder der Erfüllung langfristiger Wünsche können Gebrauchsanleitungen demnach nie schaden. „The Ten Rules“ von Lee Friedlander und „Ladies Tea“ von Paula Durette untersuchen die habituelle Seite des lesbischen Nachtlebens, auch in „Bar Talk“ von Cheryl Furjanic werden Coolness-Programme als Voraussetzung für das Beeindrucken, Anmachen und Abschleppen bejaht.
Trotz des Hangs zu transgressivem Schick scheinen sich viele Fiktionalisierungen inzwischen doch etwas festgefahren und gewisse Bild- und Themenwelten zu Selbstläufern entwickelt zu haben. In dieser Situation erscheint eher der Dokumentarfilm als Weg, starke Widersprüche und Spannungen zu verhandeln. „Otras Vias – andere Wege: Migrantinnen in der Sexarbeit“ vom FrauenLesbenFilmCollectif will das Thema Migration und Prostitution vom zwanghaften Opferdiskurs lösen, um es auf auch für die betroffenen Frauen und Transsexuellen interessantere, harte ökonomische Füße zu stellen. In „Tangled Roots“ macht sich Heidi Schmidt Emberling – Tochter einer amerikanischen Jüdin und eines Deutschen, dessen Vater Mitglied der NSDAP war – auf die autobiografisch motivierte Recherche der Bruchlinien in ihrer eigenen Identität.
Mit der Dokumentation „In The Mirror Of Maya Deren“ nimmt das Festival auch eine filmhistorische Kurve. Martina Kudlacek hat hier eine Ikone der Avantgarde biografisch verehrt: Da sie viel Originalmaterial großzügig ausspielen kann, kommt man den für die Vierzigerjahre so typischen Berührungspunkten von Tanz und Film, spätsurrealistischer Kulturarbeit und deren Hang zum Frühkulturellen und zu den dritten Augen der Mystik noch einmal ganz nah. Aber Derens Diktum „Art must be artificial“ führte vor allem zu hochgradig narzisstischen Projektionen, deren somnambule Stimmung sich allerdings kaum noch mit der heute so üblichen Friends-and-Family-Perspektive deckt.
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